S c h m e r z - eine Kurzgeschichte

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mit aller Kraft
stemmt sie sich gegen die klemmende Tür.
Über ihr brennen grelle Leuchtröhren
und die Lüftung summt leise.
Draußen ist es schon dunkel
und sie kann sich selbst
in der Fensterfront sehen
während sie den Gang hinunter
läuft
sorgsam darauf bedacht
dass ihre Sneaker keine quietschenden Geräusche
auf dem Linoleumboden machen.

Sie drückt die Klinke der Holztür langsam hinunter
und gleitet in die Mädchenumkleide.
Niemand da.
Wie immer montags
um 18:38.
Ihre Tasche legt sie auf einer Holzbank ab.
Dann schaut sie zur Verbindungstür ihr gegenüber, die in die Halle führt.
Man kann gedämpft Ballgeräusche und johlende Jungsstimmen vernehmen.
Ab und zu hört man das Pritschen eines Balles auf dem Hallenboden.
Dadrin ist er irgendwo.
Spielt mit den Anderen,
lacht
erzählt seinen Freunden
von dem, was er heute erlebt hat.
Zwischendurch fährt er sich durch die Haare.
Sie stellt sich vor wie er die Arme hochreißt,
wenn er ein Tor geschossen hat
und muss lächeln.
Er und seine Teamkumpels machen dann
diesen lächerlichen Tanz
über den sie immer lachen musste.

In der Umkleide ist es unerträglich heiß.
Sie dreht die Heizung etwas runter und geht dann in den Duschraum
um sich die Eddingzeichnungen
an den weißen Kacheln anzusehen.
Es sind tausende,
manche bunt,
manche mit Jahreszahlen datiert,
die sie noch garnicht erlebt hat
und ein paar neue,
die sie noch nie gesehen hat.

Über dem Spiegel
findet sie das Datum
und die Buchstaben
die sie gesucht hat.
Zwischendurch muss sie nach ihnen sehen.
sie erinnert sich noch gut an den Tag
an dem sie eingeschlossen wurden.
in genau diesem Duschraum.
Das war der Anfang von allem gewesen
und obwohl sie nachher sogar eine Entschädigung
bekommen hatten, weil man sie vergessen hatte,
war das die beste und aufregendste Nacht ihres Lebens gewesen.

Sie geht wieder zurück in die Umkleide
und zieht ein Buch aus der Tasche,
mit dem sie sich auf einer der Holzbänke setzt.
ihr Handy vibriert und zeigt eine Erinnerung an.
Wie könnte sie es vergessen
hierhin zu kommen.
die Erinnerung stammt von der Zeit
in der sie noch manchmal vergessen hatte
hier auf ihn zu warten.
Ihr Blick fällt auf ihr Hintergrundbild
und das Datum darunter.
Sie auf seinen Schultern
nach einem Spiel.
Immerhin spielt er in der Regionalliga.
Vor mehr als eineinhalb Jahren.
Der Bildschirm erlöscht wieder.

Sie lehnt sich zurück
und schaut ins grelle Licht.
Wenn sie ein paar Sekunden
hinschaut
und dann wieder weg
sieht sie kurz nichts.

Etwas fliegt krachend gegen die Hallentür.
Kurz scheint ihr Herz stehenzubleiben und sie bückt sich in den Schatten.
Dann nähern sich Schritte und sie hört eine Stimme feixend seinen Namen rufen. Ihr Herz schlägt schneller bei dem Namen.
Dann die Stimme eines anderen: "Voll ins Schwarze, geil man!"
Selbst sagen tut er nichts, aber sie stellt sich vor, wie er breitbeinig in der Mitte der Halle steht, sich grinsend eine Haarsträhne aus dem Gesicht wischt und seinen imaginären Fans zuwinkt.
Anscheinend hat er einen Treffer gelandet.

Die Zeit vergeht schnell, wie immer.
Sie liest etwas,
und hört den Geräuschen aus der Halle zu.
Einmal hört sie ihn auflachen,
und es geht ihr kurz durch Mark und Bein
aber das kommt nicht selten vor
deshalb ist der Moment schnell vorbei.

Natürlich überlegt sie
wie immer
ob sie die schmale Tür
in einem Moment
wo die Stimmen weit weg
auf der anderen Seite sind
einen spaltbreit
öffnen sollte.

Sie hat schon ein Jahr nichts mehr
von ihm gehört
und ihn seitdem auch nicht gesehen.

Aber sie überlegt schon seit einem Jahr
und hat es noch nie gewagt
deshalb ist das Überlegen
nurnoch ein nicht ernst zunehmender
Gedanke
der der Routine wegen
geblieben ist.

Ihr reicht schon dieser wöchentliche
Ausflug
redet sie sich ein.
Der Gedanke,
ihm so nah zu sein,
seine Stimme ab und zu hören zu können,
reicht.
Den ganzen Tag über fragt sie sich,
was er wohl gerade macht
aber wenn sie hier ist,
weiß sie es.
Und das hilft.

Irgendwann hört sie
wie die Tür zur Jungenumkleide
neben ihr sich öffnet.
Durch die dünne Wand hört sie
Duschen
und Gelächter
und sogar das Sippen von Reißverschlüssen.
Langsam wird es ruhiger.
Als sie sich sicher ist, dass alle weg sind,
öffnet auch sie die Tür der Mädchenumkleide und setzt einen Schritt raus auf den Gang.
Wie immer wirft sie noch einen Blick in die Jungenumkleide
wo er vor zwei Minuten noch stand
und sich umgezogen hat.
Sie kann sich den Gedanken nicht verkneifen -
er mit freier Brust in der Umkleide.
Plötzlich fällt ihr Blick auf einen kleinen Gegenstand
der unter der Bank liegt.
Sie zuckt zusammen.
Seine Uhr.
Augenblicklich schießen ihr Erinnerungen in den Kopf
in denen er die silberne Armbanduhr um den Arm trägt
aber sie drängt sie zurück.
So sehr sie sie auch mitnehmen möchte,
sie ihm geben will,
sie war nicht hier.

Dann tritt sie wieder hinaus auf den Gang und geht bis zur klemmenden Tür.
Das Muster des Linoleums kann sie vom vielen
darauf herumlaufen
auswendig.
Sie war schon so oft hier.
Und trotzdem kommt sie immer wieder.
Selbst nach einem Jahr noch.
Und bis jetzt hatte sie noch niemand gesehen,
grinste sie zufrieden in sich herein.
Auch wenn ihr Inneres taub ist,
spürt diesen kleinen Triumph.
Sie stemmt sich gegen die breite Tür und setzte gerade einen Schritt in die eisige Februarkälte
als sie mit jemand großem zusammenstößt.
Dieser jemand hat ein Handy am Ohr
und er lässt es in dem Moment sinken,
in dem er sieht,
wer vor ihm steht.

kunterschwarzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt