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Ich wusste nicht, wie lange ich dasass und meinen Tränen freien Lauf liess. Die Gefühle, die sich in der salzigen Flüssigkeit meiner Tränen sammelten, frassen mich von innen auf.

Trauer. Ich konnte und wollte nicht glauben, dass der reglose Körper, der noch immer am Fusse der alten, hölzernen Treppe lag, der meiner besten Freundin Joleen war.

Wir waren zusammen aufgewachsen.

Hatten gemeinsam die verschiedenen Phasen der Entwicklung durchgemacht. In der Pubertät war sie bei mir gestanden, wenn es meine Eltern nicht taten - aber vor allem kannte sie mich von allen Personen auf diesem Planeten am besten.

Oder musste ich jetzt „hatte gekannt" sagen?

Der Gedanke liess erneut Tränen in meinen Augen sammeln und ein lauter Schluchzer entwich meinen Lippen.

Das zweite Gefühl war Angst. Ich war alleine.

Aber was, wenn ich nicht alleine war?

Reine Panik war in mir aufgestaut die nur darauf wartete herauszubrechen.

Ein lautes Klirren liess mich hochfahren.

„H...hallo?" Ich rappelte mich hoch.

„Ist da jemand?"

Ich sah mich suchend um. Die Panik schoss mir nun in jede einzelne Faser meines Körpers. Fühlbar pumpte sie in jeder noch so kleinen Vene und vermischte sich dort mit einer geballten Ladung Adrenalin.

„Ryanne?"

Ich fuhr herum, und was ich da sah, liess mich an meinem Verstand zweifeln.

Joleen stand da und sah mich an. Sie sah unversehrt aus, etwas gestresst, aber sie sah etwas gesünder aus als einige Sekunden zuvor. Ihr langes blondes Haar reichte ihr bis zu den Hüften und in der rechten Hand hielt sie noch immer ihre Kamera.

Mein Blick schnellte zu der Stelle, wo sie vorher noch gelegen hatte, doch ihr Körper war verschwunden.

„Das ist unmöglich." Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nein, du bist tot, das kann nicht-„

Ich hielt abrupt inne.

Joleens Augen füllten sich mit Flüssigkeit.

Dickflüssige, weinrote Tränen kullerten ihre Wangen hinab und tropften gen Boden.

Etwas in meiner Magengegend begann unangenehm zu kribbeln, und mein Blick wanderte an mir herunter. Ich wusste nicht, was ich erwartete, da zu sehen; doch ich erwartete sicherlich nichts Gutes.

Ich begann unkontrolliert zu schreien, als ich sah, dass in meinem Bauch ein Loch klaffte.

Doch das war nicht das Schlimmste.

Tausende und abertausende kleine schwarze Spinnen krochen aus dem Loch hinaus, unter meine Kleidung, über meine Haut hinauf zu meinem Kopf.

„NEIN! NEIN!", kreischte ich und versuchte die Spinnen abzuschütteln.

Ich hatte eine Todesangst vor Spinnen.

Die ganze Zeit über stand Joleen nur da, mit blutüberströmten Wangen und legte den Kopf schief.

„Ist es nicht faszinierend, wie nahe sich Realität und Vorstellung manchmal liegen können?" Die Stimme hallte in der grossen Eingangshalle wider. Sie war so laut, dass ich nicht sagen konnte, woher sie kam.

Die Spinnen verschwanden mit einem Mal, und mir wurde bewusst, dass es eine Halluzination gewesen war.

Nur eine Einbildung. Ich musste raus aus diesem Haus.

PhantomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt