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Seine grünen Augen schienen mich beinahe aufzuspießen.

In dem Moment fragte ich mich, ob er von Paxtons Angebot etwas mitbekommen hatte oder ob Harold nicht wusste, dass die Türen offen waren - und so, als könnte er meine Gedanken lesen, antwortete er.

„Keine Sorge, ich weiß davon."

Ich spürte ein schlechtes Gewissen in meiner Magengrube. „Harold, ich-", fing ich an, doch er schnitt mir das Wort ab.

„Geht", meinte er ruhig und nickte zum Ausgang. Er lächelte, strahlend und seine Stimme war sanft, als er sprach - nicht das kleinste bisschen verärgert, und das ließ mich für einen Moment innehalten.

Ich realisierte, was es heißen würde, wenn ich durch diese Tür hinaus schritt. Ich würde ihn alleine lassen. Alleine in dem Elend, in dem er die letzten Jahrzehnte verbracht hatte, alleine mit dem Dämonen in seinem Kopf. Er hätte niemanden, mit dem er seinen Schmerz teilen konnte. Er würde auf alle Ewigkeit verdammt sein, doch ich war nicht selbstlos genug, um deswegen bei ihm zu bleiben.

Es wäre eine Qual für mich, noch einen Tag länger hier zu verbringen. In ständiger Angst zu leben, langsam verrückt zu werden und schlussendlich zu sterben. Ich wollte das nicht. Und ich war mir sicher, dass Harold auch gehen würde, wenn er in meiner Position wäre.

„Ihr zögert." Harold senkte den Kopf und schritt dann, mit den Händen hinter dem Rücken verschränkt, auf mich zu. „Warum zögert Ihr? Die Freiheit ruft, Ryanne. Gelüstet es Euch nicht danach, endlich wieder einen Schritt nach vorn zu machen und Euch in völliger Sicherheit wiegen zu können?"

Harold ging nun um mich herum, betrachtete mich von allen Seiten, doch mein Blick war nur auf den Fußboden gerichtet. Ich getraute mich nicht, hochzusehen, voller Angst davor, etwas wie Enttäuschung in seinem Blick zu sehen - oder vielleicht hatte ich auch Angst davor, zu sehen, dass es ihm tatsächlich gleichgültig war.

Seine Stimme klang verlockend und so süß wie Honig, als er um mich herumging und redete. „Könnt Ihr Euch noch daran erinnern, an das Leben bevor Ihr diese Villa betreten habt?"

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Und ob ich mich noch daran erinnern konnte. Ich hatte ein normales Leben gehabt - eine Familie, Freunde. Leute, die sich nun nicht mehr an mich erinnerten.

Doch lieber würde ich in Vergessenheit verweilen als dass ich bis auf meinen Tod gequält werden würde.

„Wäre es nicht schön, wieder so leben zu können? Frei von Sorgen, frei von Qualen. Frei von mir." Seine Lippen berührten mein Ohr und ein Schauder lief mir über den Rücken.

Langsam drehte ich den Kopf und blickte ihn an. Ich musterte ihn; seine bleiche Haut, seine moosgrünen Augen, seine dunklen Locken. Seine Augenbrauen und die Furche zwischen ihnen, die sich bildete, weil er sie zusammengezogen hatte - seine Lippen, zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

„Beantwortet meine Frage." Seine Stimme klang harsch und ich nickte langsam.

„Ja. Ja, es wäre schön."

Seine Lippen kräuselten sich zu einem gewinnenden Lächeln. „Na also. Und nun, geht, Ryanne. Eure Zeit läuft ab."

Ich schluckte und spürte, wie meine Hände schwitzig wurden. Dass Harold mich dazu aufforderte, zu gehen, machte mir ein umso schlechteres Gewissen, denn das, was er in diesem Moment tat, war selbstlos.

Es war offensichtlich, dass er in der Zeit, in der ich hier gewesen war, Gefühle für mich entwickelt hatte und ich wusste, dass für mich dasselbe galt; allerdings konnte ich sie nicht wirklich einordnen. Die Linie, die Zuneigung und Hass trennte, war verschwommen und unklar, doch von seiner Seite her war ich mir sicher, dass er mich mochte.

PhantomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt