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Mein Mund öffnete sich, beinahe so, als wollte ich etwas sagen, doch ich blieb stumm. Verzweifelt durchforstete ich meine Gedanken nach etwas, das ich mit dem Namen Joleen in Verbindung bringen konnte, doch wie auch immer ich die Wörter ordnete; ich kam nicht darauf, wer diese Person namens Joleen war. Das plötzliche Geräusch von erneutem Kratzen auf Holz liess mich hochfahren und als ich die Worte las, die da standen, begann ich zu zittern.

Dreh dich um.

Ich holte tief Luft und warf einen Blick über die Schultern, doch alles, was ich in dem grossen, staubigen Spiegel hinter mir erkennen konnte, war das Abbild meiner selbst. Ich sah ausgezehrt aus, unter meinen Augen lagen tiefe Schatten und meine Arme waren mit dunklen Flecken bedeckt. Doch das, was mich beunruhigte, war, dass ich nichts Aussergewöhnliches sah. Mein Herzschlag beschleunigte sich wieder und sah mich nach links und rechts um, konnte jedoch nichts erkennen.

Und dann spürte ich, wie jemand die Arme um mich legte.

Mein Blick schnellte hinunter zu meinem Brustkorb, doch zu meiner Überraschung sah ich nichts.

Gar nichts.

Das einzige, was da war, war das Gefühl davon, von etwas eng umschlungen zu sein.

Ich wollte zur Seite springen, doch vor Schock konnte ich keinen Finger rühren - das Einzige, was in diesem Moment ein Anzeichen darauf gab, dass ich lebte, war mein Herz das schneller pulsierte als je zuvor.

Zögernd hob ich meinen Blick, doch als ich dieses Mal mein Spiegelbild sah, war ich nicht alleine.

Ein Mädchen stand neben mir.

Nicht bloss ein Mädchen; es war das Mädchen, das ich auf dem Bild mit mir gesehen hatte. Blonde Haare umrahmten ihr hübsches Gesicht, sie war etwa gleich gross wie ich und die Halskette an ihrem Hals funkelte leicht.

Es war das Mädchen mit derselben Halskette, die ich trug. „Joleen", wisperte ich und das Mädchen im Spiegel nickte. Es sah so aus, als wollte sie lächeln, doch die Tränen in ihrem Gesicht machten den Anschein vom Glücklichsein kaputt. Sie hatte ihre Arme fest um mich geschlungen, so, als wolle sie mich nie mehr loslassen und mein Mund öffnete sich erstaunt, als das Mädchen lautlos zu schluchzen begann und ich das heftige Vibrieren ihres Brustkorbes gegen mich spürte.

Ich wandte den Kopf, um zu sehen, ob sie wirklich da war, doch als ich mich umsah, war ich wieder alleine. Ich richtete meinen Blick wieder auf den Spiegel und es tat mir im Herzen weh, nicht zu wissen, wer sie war oder warum sie weinte - weswegen ich mich entschied, so gut wie möglich einen Arm um ihre imaginäre Figur zu schlingen.

Meine Hände fanden an etwas Festem Griff und im Spiegel erkannte ich, dass es die Schulter des Mädchens war.

Sie war eiskalt.

„Warum weinst du?", flüsterte ich und das Spiegelbild des Mädchens hob den Kopf. Über ihre Wangen rannen Tränen und hinterliessen feuchte Spuren, ihre Augen waren geschwollen und ihre Nase ganz rot, als sie bloss den Kopf schüttelte und mit den Lippen die Worte ich liebe dich formte.

Etwas in mir drängte mich dazu, es ebenfalls zu sagen, doch ich konnte es nicht.

Ich spürte das zitternde Mädchen neben mir, ich konnte sie fühlen - doch sie war nicht da. Und dann verschwand das Gefühl um meinen Brustkorb, als Joleen sich ein wenig von mir löste und in den engen Taschen ihrer Jeans herumkramte, bis sie ein zerknülltes Papier und einen silbern glänzenden Gegenstand hervornahm. Die beiden Dinge schwebten vor mir in der Luft und ich richtete meinen Blick wieder nach vorne, um bei Sinnen zu bleiben. Im Spiegel beobachtete ich, wie Joleen sich zu Boden sinken liess, das Papier auf den Boden legte und glattstrich und dann den Stift ansetzte.

PhantomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt