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Es gab nur einen Bus, der in Red Valley verkehrte. Auf der Rundfahrt durch all die umliegenden Dörfchen nahm er mich auch an diesem Morgen mit, an dem ich beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und mich in der Bibliothek der Nachbargemeinde über Dämonen und Geister schlau zu machen. Ich hatte das ungute Gefühl, dass die Szene, die ich beobachtet hatte, real gewesen war und wenn das so war, musste ich etwas unternehmen, um Harold zu helfen. Wenn ich ihm glauben konnte, war ich schliesslich die einzige, die es konnte - und ich war laut Harold auch die einzige, die diese Halluzinationen, die mich plagten, zum Stoppen bringen konnte.

Seit ich aufgewacht war, hatte ich mir viele Gedanken gemacht. Darüber, was nun geschehen würde, was mit Harold passieren würde. Und ich hatte beschlossen, ihm den Gefallen, um den er mich gebeten hatte, zu tun - das aus dem einzigen Grund, dass es für mich keinen Unterschied machen würde.

Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass ich beim Versuch Harold zu erdolchen starb und ich war mir ziemlich sicher, dass das Gift in meinem Körper mich ebenfalls töten würde, solange ich nichts fand, das mich heilen konnte. Die Wunde an meinem Arm sah mit jedem Tag schlimmer aus, von Zeit zu Zeit brannte sie, manchmal spürte ich sie nicht. Es war merkwürdig. Ich zog den Ärmel meines Kapuzenpullis etwas nach vorne, dabei strich der weiche Stoff über den Verband an meinem Arm und sandte ein Ziepen durch meinen Körper, das mich erschaudern liess.

Der Bus verlangsamte, die Reifen schienen nicht so schnell wie üblich Halt auf den verregneten Strassen zu finden und die Bremsen liessen ein Quietschen hören, als das Fahrzeug knapp vor der weissen Linie am Lichtsignal anhielt. Ich war zusammen mit einem alten Pärchen die einzige Passagierin im Bus. Ich fragte mich, welcher Tag heute war und ob die Bibliothek überhaupt geöffnet hatte - ich hatte nämlich nicht nachgesehen.
Mein Blick wanderte wieder hinüber zu den Fenstern, die von der Wärme der Heizungen im Bus angelaufen war. Kalte Regentropfen klatschten gegen das Glas und ich beobachtete wie sie sich hinterherjagten.

Als ich heute aufgewacht war, hatte ich bemerkt, dass die Ränder meines Blickfelds flackerten. Erst hatte ich gedacht, dass das sei, weil ich noch müde und im Halbschlaf war, aber nun, drei Stunden später, war es immer noch da und es beunruhigte mich.
Meine Hände, die in meinem Schoss lagen, waren genauso kalt wie immer. Die Narben, die sich über meinen Handrücken und Knöchel zogen, waren immer noch gut sichtbar, vor allem jetzt, da meine Haut komplett bleich war. Ich war zwar noch nie jemand gewesen, der super braun gebrannt war, ich war immer blass gewesen - doch seit ich aus der Villa raus war, hatte meine Haut auch noch das letzte bisschen Farbe verloren.

Ich verbarg mein Gesicht hinter meinen Haaren und meine Kapuze war hochgezogen. Ich zog sie mir noch etwas tiefer ins Gesicht, als neue Leute in den Bus traten und nasse Spuren vom Regen draussen auf dem Boden hinterliessen. Sie sahen mich misstrauisch an und ich wandte meinen Blick sofort ab - ich wollte mit niemandem sprechen.

Als schliesslich eine monotone Stimme aus den Lautsprechern meine Station ankündigte, stand ich auf. Das Flackern in meinen Augenwinkeln beeinträchtigte jedoch meinen Gleichgewichtssinn so sehr, dass ich stolperte und dabei beinahe hinfiel, hätte ich mich nicht noch an einer der tristen, grauen Stangen festhalten können. Ich spürte die Blicke von den Leuten auf mir und sprang, sobald die Türen sich öffneten, auf den Gehweg und ging so schnell wie möglich weg vom Bus.

Den Weg zur Bibliothek kannte ich gut, obwohl ich nie das Mädchen gewesen war, die ihre Freizeit mit Büchern verbracht hatte. Trotzdem, wir waren mit der Schule jeden Freitag-Nachmittag in die Bücherei gefahren, wo wir an unseren Hausaufgaben arbeiten mussten, ein kompletter Schwachsinn, wenn man mich fragte.

Ich hatte Glück, die Bibliothek war geöffnet.

Ein warmer Lufthauch empfing mich, als ich das Gebäude betrat und das erste, was mir auffiel, war, dass sie renoviert hatten. Die vergilbten Wände strahlten nun im reinsten Weiss und die alten, hölzernen Regale waren verschwunden und gegen Kunststoff ausgetauscht worden - selbst die Bibliothekarin, die hinter dem Empfangstisch sass, schien neu zu sein.

PhantomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt