Genauso schnell wie er aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden. Ich stand schwer keuchend im Flur, die Blicke der Leute auf mich gerichtet. Ich wusste nicht, warum sie mich so anstarrten. Hatten sie ihn etwa auch gesehen? Hatte ich geschrien, ohne dass ich es bemerkt hatte? Ich wandte mich um, um durch die offene Tür hinter mir noch einmal einen Blick auf den Doktor zu werfen, doch er sah wieder genauso aus wie einige Minuten zuvor. Er kam jetzt zu mir hinüber, warf mir einen prüfenden Blick zu und erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden. Ich sicherte ihm mit einem schwachen Lächeln ab, dass alles in Ordnung war.
„Sind Sie sich sicher?"
Ich nickte, vielleicht etwas zu hastig denn er sah mich misstrauisch an. Er wusste offensichtlich, dass ich log. Mein verräterisch schneller Herzschlag und mein gehetzter Blick sprachen wahrscheinlich Bände und ich hielt es keine Sekunde länger an diesem Ort aus. Ich musste weg hier. Ich entschuldigte mich, wobei ich mich zweimal verhaspelte, dann eilte ich weg. Den Flur entlang, zum Aufzug. Ich ignorierte die bunten, scheusslichen Bilder an den Wänden, die Blicke der Leute, als ich vorbeiging. Ich konzentrierte mich nur auf mein Ziel.
Der Aufzug benötigte nervenaufreibend lange, bis er auf meiner Etage angekommen war und ich einsteigen konnte. Gott sei Dank war er leer, so dass mich im Inneren nicht noch mehr Leute anstarren konnten und als ich drin war, lehnte ich mich erschöpft gegen die Wand. Die Neonröhre an der Decke flackerte und ich beobachtete, wie sie erlosch und kurz darauf wieder aufflammte. Das Geräusch davon bereitete mir Kopfschmerzen und meine Hände schlangen sich etwas fester um das Band hinter mir. Ich hielt die Augen geschlossen, bis ein lautes Klingeln ankündigte, dass ich im Erdgeschoss angekommen war und ohne gross zu Überlegen hetzte ich los. An den Leuten vorbei, so schnell wie möglich an die frische Luft. Und dann ging ich einfach. Ich ging ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, alles, was ich wusste, war, dass ich vom Krankenhaus weg wollte.
Meine Schritte beschleunigten sich im Gleichklang mit meinen Gedanken, die nur wirr durcheinander waren und mich vorantrieben.
War das die Strafe dafür, dass ich so lange in der Villa ausgehalten hatte? Dass er mich heimsuchte und mich an die Grenzen meiner psychischen Fähigkeiten trieb, nur um mich noch mehr zu foltern? War das mein Leben, wie es sein sollte? Vielleicht hätte ich nicht entkommen dürfen. Vielleicht war es falsch gewesen, dass ich nicht wie alle meine Vorgänger dort gestorben war. Möglicherweise hatte ich dem Schicksal ins Spiel gefunkt und nun wurde ich bestraft dafür.
Ich sollte tot sein. Doch ich war es nicht.
Ich ging schneller, immer weiter weg von der Stadtmitte. Red Valley war zu Fuss noch etwa zwanzig Minuten entfernt. Doch wollte ich überhaupt dahin zurück? Ich könnte genauso gut einfach umdrehen und irgendwohin gehen, wo mich niemand kannte. Ich könnte von vorne anfangen. Doch würde Harold mich weiterhin jagen? Würde er mich so lange jagen, bis ich tot war?
Ich zweifelte kein bisschen daran.
Ich stolperte vorwärts, meine Füsse gehorchten mir nicht mehr. Meine Schritte wurden immer schneller, bis ich schliesslich in ein langsames Joggen verfiel, dann in ein Rennen. Meine Füsse trugen mich den Strassen entlang, an allen Leuten vorbei und während ich rannte, verengte sich mein Brustkorb. Das Atmen fiel mir schwer, ich spürte ein starkes Stechen in meinem Herzen, doch ich rannte weiter. Der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen, doch das hielt mich nicht auf. Ich rannte weiter, obwohl alles weh tat und ich nicht mehr konnte, obwohl ich kein Ziel hatte und keine Ahnung, wo ich nun hinsollte. Ich rannte einfach um alles hinter mir zu lassen.
Vielleicht musste ich sterben. Vielleicht war es mein Schicksal.
Eine kleine Stimme in meinem Kopf sagte mir, dass es Schwachsinn war, so etwas zu denken, jetzt, da ich es geschafft hatte zu entkommen. Aber ich war ihm nie richtig entkommen. Er war immer noch da, er war in meinen Gedanken, er beeinflusste alles, was ich tat. Er hatte immer noch die Kontrolle über mich.
DU LIEST GERADE
Phantom
Fanfiction[WARNUNG: Diese Geschichte enthält brutale und eventuell verstörende Szenen.] In der Styles Villa soll es spuken. Das erzählt man sich schon seit dem Jahre 1888, nachdem Mr und Mrs Styles Sohn, Harold, von einem Priester wegen seiner übernatürliche...