Das mit dem Tagebuch

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Marisa hatte gelogen. Natürlich lag ihre Gefühlsduselei nicht nur daran, dass ein gewisser Prozentsatz an Freundschaften nach dem Schulabschluss zerbrach, sondern daran, dass sie ein altes Tagebuch ihrer besten Freundin gefunden hatte, als sie bei ihr zusammen ausgemistet hatten.

Darin war viel versteckt gewesen, was Marisa an den Rand eines Nervenzusammenbruches getrieben hatte. Im Prinzip war in dem abgenutzten, pinken Büchlein mit den Pferdestickern und abgegriffenen Seiten, das geheimste Seelenleben von Lina versteckt. Alles, was irgendwie in ihrem Herzen versteckt war, hatte sich in den Bleistiftstrichen ergossen und eine Realität aufgebaut, die Marisa nicht begriffen hatte oder vielmehr gar nicht begreifen konnte.

Bevor ihre beste Freundin von der Toilette im unteren Stockwerk des alten Fachwerkhauses zurückgekehrt war, hatte sie das Buch in ihre Handtasche gesteckt und sich wieder der Kiste mit den Wendy-Postern gewidmet, die sie vielleicht noch für ihre Mottowoche gebrauchen konnten.
Später, als sie wieder in ihrem eigenen Zimmer, auf ihrem eigenen Bett saß, hatte sie das Büchlein wieder hervorgeholt und darin herumgeblättert.
Gestoßen, war sie auf Zeichnungen von leeren Augenhöhlen, fahlen Gesichtern und Körpern mit Löchern. Außerdem waren viele Zitate auf mehreren Sprache hineingeschrieben worden, die allesamt sehr traurig und bedeutsam schienen. Die Schrift war mal krakelig und hektisch, mal rund und liebevoll gestaltet. Verwelkte Blumenranken wechselten sich mit Kreuzen und gebrochenen Herzen an den Seitenrändern ab, auf denen die Berichte des bestimmten Tages gekritzelt waren. Es ging immer um Schmerz und Tod, um innere Dämonen und verschobene Realitäten, um gestörte Selbstwahrnehmungen und um Melancholie.

Wäre Melancholie eine Substanz, wäre es die Mischung aus dem Blei der Zeichnungen und der schwarzen Tinte der Worte, die in diesem Buch versammelt waren. Sie wäre zähflüssig und würde aus den Seiten herausgepresst werden und jeden, wirklich jeden der das Buch anfasste, verkleben und in ihren Bann ziehen. Denn genau dies war mit Marisa geschehen.

Der Inhalt war so schön gestaltet, so voller Bedeutung und so unendlich traurig, dass das braunhaarige Mädchen nicht anders konnte, als von diesem Oktobertag an, Angst um ihre beste Freundin zu haben.

Lina geht #Goldenbookawards2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt