Natürlich ließ Marisa das nicht einfach über sich ergehen. Und irgendwie hatte Lina das wahrscheinlich auch schon gedacht, denn sie war nicht überrascht als sie am Abend ihrer Wiederkehr nach unten ins Wohnzimmer gerufen wurde. Ihre Mutter saß wie ein Häufchen Elend auf der Couch und hatte sich die Hände vor dem Gesicht zusammen geschlagen. Ihr Vater tigerte im Wohnzimmer auf und ab, stolperte dabei fast über den Teppich und strich sich mit der Hand immer wieder über den 3-Tage-Bart.
"Sabine hat angerufen." presste er hervor und ihre Mutter begann das Schluchzen. Ihr Vater trug ein einfaches Polohemd, eine helle Jeans und seinen üblichen Ledergürtel uns trotzdem kam er ihr so fremd vor, als hätte sie diesen Mann noch nie in ihrem Leben gesehen.
"Marisa hätte ihr ganz aufgelöst, etwas von einem Tagebuch erzählt und das du dir etwas antun willst.""Thomas!" Ihre Mutter kauerte sich noch enger zusammen.
"Was soll der Scheiß, Lina? Du kannst Leuten, doch nicht einfach erzählen, dass du dir das Leben nehmen willst." Ihr Vater war stinkwütend, dass merkte man an seiner Sprache und seinem Gang. Die Worte wurden nur lediglich zwischen seinen Zähnen ausgespuckt, als wenn es weh täte sie wirklich richtig auszusprechen.
"Damit nimmst du den wirklich kranken Opfer doch den ganzen Respekt!"Lina stand nur im Raum und ließ sich anschreien. Mittlerweile hatte sie einen Schutzwall um sich gebaut, in dessen Mitte sie mit versteinerter stand und die Worte sich nicht zu Herzen nahm. In den letzten Jahren hatte sie all ihre Energie darauf verschwendet, ihren Eltern immer und immer wieder ihre Gefühlslage zu verstehen zu geben und nie war etwas sinnvolles dabei herum gekommen. Jetzt konnte sie keine neuen Anschuldigungen mehr aufnehmen.
"Bekommst du zu wenig Aufmerksamkeit von uns? Ist es das?" Bellte ihr Vater und gestikulierte wild mit seinen Armen.
"Möchtest du mehr von uns verwöhnt werden?"
"Thomas." protestierte ihre Mutter schwach.
"Nein Inge, das ist doch so. Madame hat nur eine ihrer Gefühlsduseleien!"
Lina stand im Türrahmen und hätte sich am liebsten einfach wieder umgedreht, wär in ihr Zimmer gegangen und hätte die Welt vergessen. Aber das ging nicht mehr. Die beschissene Realität hatte immer und immer wieder ihre mühsam errichteten Mauern zum Einsturz gebracht uns jetzt hatte sie einfach nicht mehr die Kraft sich zu verschanzen.
"Das ist nicht fair." setzte Lina sich langsam zur Wehr.
"So vieles ist nicht fair, Madame, aber das nennt sich erwachsen werden!"
"Du hast doch keine Ahnung wovon du redest."
"Das wird ja noch schöner! Ich habe durchaus mehr Lebenserfahrung als du und weiß, dass man auch mal die Arschbacken zusammenkneifen muss."
"Thomas, jetzt lass sie doch mal ausreden. Vielleicht war es ja auch nur ein Missverständnis!" Ihre Mutter hatte sich jetzt zu den Beiden umgedreht, als wolle sie tatsächlich ein Teil des Gesprächs werden, aber das war bloß Schein. Wie so vieles im Leben.
"Nein, es ist wahr, dass ich sterben will-"
"Siehst du? Nur Schwachsinn! Du hast doch gar keine Ahnung, wovon du da redest, Kind."
"Weil ich einfach nicht mehr kann."
"Was faselst du denn da? Nicht mehr kann, von was denn?" Je öfter ihr Vater ihr ins Wort fiel, desto wütender wurde Lina. Wie sollte sie ihm jemals erklären, was vor sich ging, wenn er sie gar nicht ließ?
"Papa! Hör mir jetzt bitte einfach zu!" flehte sie so verzweifelt, dass es ihre Eltern erschreckte. Lina klang als habe man sie in den letzen Stunden gequält.
"Ich versuche euch seit Jahren zu erklären, dass es mir nicht gut geht. Aber immer ist es ja nur Einbildung oder eine pubertäre Phase die sich verwächst. Eine Modeerkrankung und für euch sind Depressionen nichts anders, als ab und an etwas müde zu sein."
"Du weißt doch gar nicht, was Depressionen sind."
Lina beschloss diesen Kommentar zu übergehen. Sie nahm jeden letzten Rest an Kraft und Mut, der sich noch in irgendeinem Winkel ihres erschöpften Körpers befand, und ließ einen Redeschwall los, der auch durch zahlreiche Versuche ihrer Eltern nicht unterbrochen werden konnte. Ihre Stimme klang so gequält, so traurig und so alt, dass ihre Mutter sofort das Weinen begann.
"Ich bin so müde von all dem was um mich herum passiert, ich kann euer Geschrei nicht ertragen, ich kann mich selber nicht ertragen. Ich weiß nicht, ob die Stimme in meinem Kopf wirklich ich bin oder wer anders und manchmal weiß ich gar nicht was Ich überhaupt ist. Ich bin viel zu melancholisch, hänge an jedem und an allem und habe Angst vor der Realität. Ich kann nicht daraus gehen und einfach leben, die Schulzeit war eine Qual sondersgleichen. Zu viele Menschen, zu viele Blicke ihre Stimmen regen mich auf, sie flüstern und schreien gleichzeitig ich habe das Gefühl das ihre Augen Messer werfen, mich an die Klassenwand pinnen und mich langsam verbluten lassen. Dann weiden sie mich aus, mit triumphalen Grinsen dekorieren sie das Zimmer mit meinen Eingeweiden und all das schießt mir durch den Kopf, wenn ich Angst habe mich zu melden. Überall lauern Monster, in jeder Ecke, in jedem Raum. Stimmen, Augen, Blicke, Gedanken die mich beobachten und mich nicht schlafen lassen. Ich bin so schüchtern, ich habe Angst dass mich mein eigenes Spiegelbild nicht leiden kann, ich hasse mich, weil ich mir dumm vorkomme, dass alles mit mir machen zu lassen. Ich finde mich hässlich und dumm und ich bin nicht lebensfähig. Seit ich denken kann, habe ich Angst vor dem Tag an dem ihr nicht mehr seid, Angst vor allem und jedem. Dunkelheit, Helligkeit, Wärme, Kälte, Menschen, Tiere, Spiegel, Spinnen, Zukunft, Vergangenheit, blaue Socken, mir selber, Krieg - all das sind Dinge vor denen ich Angst habe. Manchmal denke ich, die Welt kreist nur um mich selber, das alles bloß etwas ist, dass ich mir ausdenke und dass alle mich verarschen und sich über mich lustig machen. An manchen Tagen finde ich mich so abscheulich, dass ich am liebsten gar nicht raus gehen würde, an manchen Tagen kettet mich meine Traurigkeit so an mein Bett, sie liegt auf meiner Brust und wickelt sich mit eiserner, kalter Hand um mein Herz. Dann kann ich nicht atmen, nicht aufstehen. Ich schreit mich an, dass ich mein Zimmer aufräumen soll, dabei kann ich noch nicht einmal aufstehen. Ich bin froh, wenn ich es schaffe mich einmal die Woche unter die Dusche zu schleppen, weil allein den Fuß zu heben schon zu anstrengend ist. Ich hätte kein Problem damit, wenn ein Auto mich einfach überfahren würde, denn so bin ich nicht lebensfähig. Mir macht nichts mehr Spaß, mir hat noch nie etwas wirklich Spaß gemacht und glücklich war auch schon lange nicht mehr. Ich weiß gar nicht wie das ist, sich abends nicht in den Schlaf zu weinen, weil man so unglaublich leer, müde und traurig ist. Sich als gute Nacht Geschichte, nicht Listen auszudenken, in denen man Dinge aufzählt, die negativ an einem selber oder im Leben sind. Schaue ich andere an, will ich immer so sein wie sie, ich kann nicht die nächsten Jahrzehnte mit mir selber leben, weil ich nicht weiß, wer das in mir ist, das bin nicht ich, ich habe keine Ahnung wer ich ist, wer das in mir sagt, ich mag mich nicht, nein, ich hasse mich und ich kann dem Druck nicht mehr standhalten, wenn ich noch nicht einmal aufstehen kann."
Lina wusste nicht ob ihre Eltern gehört hatten, was sie gesagt hatte, denn sie hatten immer versucht sich zu rechtfertigen, irgendetwas gerufen und geschrien, ihre Aufmerksamkeit verlangt. Aber jetzt sah sie nur noch wie sich ihre Münder bewegten, an ihren Ohren kam kein Ton an - in ihnen klingelte es nur und sie hörte ihr Blut rauschen. Sie hatte alle Kraft die sie hatte verbraucht, sie konnte nicht mehr. Sie wollte nicht mehr, es sollte endlich aufhören so unendlich weh zu tun in ihr. Ihr Inneres war ein Vakuum und der Unterdruck der herrschte tat unglaublich weh. Am liebsten hätte sie schon wieder geweint, sie sah sich schon zusammenbrechen, wie die das in diesen Filmen immer taten, aber ihr Leben war kein Film und niemand würde sie retten.
Als Lina das Haus verließ, spürte sie den Wind der draußen herrschte, wiedereinmal nicht.
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Lina geht #Goldenbookawards2018
NouvellesLina will nicht mehr, sie hat einfach keine Lust mehr, also beschließt sie zu gehen. Ob Adam das ändern kann? >> Es geht nicht darum, dass Leben zu zelebrieren und die schönen Seiten kennen zu lernen, es geht darum sich zu verabschieden. <...