27. Dezember 2016

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27. Dezember 2016

Er war heute hier. Samuel.
Den ganzen Nachmittag. Er hat meine Mom kennengelernt.

Ich hab ihn jetzt anderthalb Wochen nicht mehr gesehen, hatte schon fast den Klang seiner Stimme vergessen, seinen Geruch.
Als ich ihm die Tür öffnete, lächelte er zu mir herab und zog mich zu einem Kuss zu sich heran. Um fast zwei Köpfe überragt er mich.
Meine besten Freunde necken mich mit diesem Größenunterschied, schlagen mir vor Stelzen zu kaufen oder Schuhe mit Plateau. Ich höre gar nicht hin, boxte ihnen bestenfalls gegen den Oberarm und maule sie nach. Neckereien gehören zu Freundschaften dazu, und ich bin bei ihnen ja auch nicht besser.
Es gehört sich einfach darüber zu lachen, es ist ja keinesfalls böse gemeint.
Mittlerweile mache ich selbst Witze darüber.
Ich bin keine große Person, das weißt du ja. Und dann musste ich mir ausgerechnet einen Jungen aussuchen, der größer war als die anderen.
Die Sprüche waren da doch schon vorprogrammiert.

Den Nachmittag über waren wir bei mir zu Hause, erzählten uns von unseren Erlebnissen an Weihnachten mit der Familie und anderen Dingen, die in der verstrichenen Zeit passiert waren.
Und dann holte er eine kleine Schachtel hervor.

Völlig perplex starrte ich die kleine, graue Dose an und nahm sie in die nervös zuckenden Finger, als er sie mir reichte.
Ich konnte ihn nur fassungslos einen Idioten schimpfen, natürlich mit einem neckenden Unterton, nachdem ich die Schachtel geöffnet hatte.
Schlicht und silbern glänzte das kleine Herz, das an einer dünnen Kette aus dem selben Material befestigt war. In dessen Mitte saß ein kleiner Brillant, dessen Facetten das Licht zurückwarfen und das ganze Gebilde in ein kühlen, weißes Licht tauchen.
Ich war fassungslos. Überwältigt.

Grinsend legte er mir die Kette um und ich konnte sie nur weiterhin anstarren.
Ich dachte, wir schenkten uns nichts. Wir waren schließlich nicht lang zusammen. Ich fühlte mich schlecht.
Ich wusste von Anfang an, dass ich keine gute Freundin war, vor allem, wegen der Sache mit Nico. Doch in diesem Moment wurde mir das nur noch einmal bewusst und ich bekam Zweifel.
Samuel hatte etwas besseres verdient, als mich. Jeder hatte etwas besseres verdient als mich.

Ich war kein sentimentaler Mensch. Ich war vollkommen unfähig mit Komplimenten umzugehen, sei es, welche zu machen oder anzunehmen. Ich konnte einfache Sätze wie ein 'Ich mag dich' oder ein 'ich vermisse dich' nicht über die Lippen bringen. Ich fühlte mich dabei komisch, bescheuert und ließ es deswegen.
Ich hasste diese Seite an mir, dass ich nicht nett sein konnte, dass ich meine Gefühle nicht zum Ausdruck bringen konnte. Ich war doch eigentlich ein Mensch der Worte, schaffte es Geschichten zu schreiben...warum konnte ich das nicht?
Ich konnte anderen Leuten von meinen Gefühlen über eine nicht anwesende Person berichten, aber nicht von der Person. Nicht Angesicht zu Angesicht. Ich konnte es nicht. Ich war dazu nicht fähig.
Zum Glück wussten das die meisten meiner Freunde. Dass sie nicht mehr als ein 'Ich hasse dich nicht', 'du bist ganz ok' und ein 'ganz hässlich bist du ja nicht' von mir erwarten konnten. Denn höhere Komplimente gab ich nicht von mir.
Ich war erbärmlich.

In diesem Moment führte das rote Heer einen Angriff gegen das grün-blaue und gewann. Nicht den Krieg, aber diese kleine Schlacht.
Vielleicht tat ich Samuel ja unrecht. Er war wundervoll und mochte mich. Was konnte ich nur meckern?

Der Nachmittag mit ihm verging zu schnell. Wir redeten und taten Dinge, die Pärchen in unserem Alter eben taten.
Und als er ging, hatte ich ein Grinsen im Gesicht. Dieser Kampf, der Krieg der singenden Farben in meinem Kopf...schien auf einmal so sinnlos. Ich hatte doch alles, was ich wollte.
Ich hatte Samuel. Und ich war doch glücklich.

Doch kurz bevor ich das rote Heer gewinnen ließ, das tötende Schwert schon über dem Kopf erhoben, um es dem grün-blauen ins Herz zu rammen, zögerte ich.

Ich hielt den kleinen, mir geschenkten Anhänger in der Hand und betrachtete ihn wieder.
Irgendetwas vergaß ich, da war ich mir in dem Moment sicher.
Irgendetwas übersah ich, verdrängte ich in diesem Gefühlsrausch, der durch meine Adern floss.
Und dieses Etwas wurde mir jetzt bewusst.

Ich bin dafür bekannt, eine analysierende Person zu sein, mit guter Menschenkenntnis, die andere sehr schnell durchschaute. Ich erkannte das 'Innere', wie ich es nannte, der Menschen sehr schnell. Denn jeder besitzt in sich eine Angst, die ihn ausmacht. Mit dieser Angst kann man ihn zerstören, brechen, töten. Und ich kenne diese Ängste. Sowohl meine, als auch die von anderen.
Es mag dumm klingen, niemand mag es mir glauben, bis ich diese...Angst 'anwende'.
Ich erkenne meine Freunde daran, dass ich ihr Inneres kenne, denn erst dann kann ich ihnen vertrauen. Ich weiß, wie ich sie zerstören könnte (was ich natürlich nicht vorhabe, aber theoretisch wäre es möglich...). Und deshalb vertraue ich ihnen.
Natürlich besteht ein Mensch nicht nur aus diesem Inneren. Er hat auch ein Äußeres...die 'Maske'.
Es ist bekannt, dass einige Menschen, ach was, jeder, ab und zu eine Maske auflegt, um Gefühle nicht zu zeigen. Natürlich. Aber in Wirklichkeit ist dort auch etwas wahres dran.
Ein Mensch ist erst dann wirklich ein Mensch, wenn er sowohl Maske als auch Inneres hat...und auch eine Verbindung zwischen diesen Teilen besteht.
Manche haben das noch nicht geschafft...oft muss man erst am Inneren zerbrechen, um das 'Selbst', also die Verbindung zu finden.

Und das war in dem Moment das Problem.
Ich hatte Samuel mein Inneres, einen Teil von mir offenbart, den fast niemand kennt. Ich mag es nicht so, wenn Leute wissen, wie man mich zerstören kann, versteht sich doch, oder?
Doch er ist mein Freund, und ich konnte ihm doch vertrauen, nicht?
Ich habe ihm dann in die Augen gesehen...und nichts erkannt. Ich durchschaue ihn nicht.
Allein konnte ich sein Inneres nicht erkennen, und das verunsicherte mich in dem Moment.
So fragte ich ihn. Ich fragte nach seiner größten Angst. Nach seinem Inneren.

Und er zuckte nur mit den Schultern.

Er offenbarte es nicht.

Und da wurde mir bewusst...er kannte es nicht.
Er war noch nicht im 'Selbst'.
Er bestand aus Maske und Innerem.
Er hatte sich noch nicht gefunden.
Und das...ließ das grün-blaue Heer einen Gegenangriff starten; und diesen Gewinnen.

Denn Menschen ohne Selbst waren abhängig. Unsicher. Wechselhaft. Gefährlich.
Und je länger ich darüber nachdachte...

...desto mehr wurde mir bewusst, dass ich Samuels Inneres war. Ich war seine größte Angst. Ich konnte ihn zerstören. Allein. Musste nicht einmal viel dafür tun.

Das mag auf den ersten Blick gut aussehen, wenn man mich kennt.
Doch das ist es nicht.
Das ist schrecklich.

Er war abhängig von mir. Und würde ich gehen...würde er brechen.

Und diese Macht über einen anderen sollte kein Mensch besitzen.

Das Tagebuch der singenden FarbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt