4. Februar 2017

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4. Februar 2017

Ich mag es, wenn ich daran denke. Ich bin gerne dort, wo ich noch vor einem Monat hätte sterben können. Ich verliere mich gerne dort.
Verloren ist man frei.
Keine Sorgen.
Keine Angst.
Man gehört ganz ihnen.
Man ist zuhause.
Geborgen.
Sicher.

So fühlt es sich an. So hätte es sich schon immer anfühlen sollen.
So sollte ein Geist sein.
Geordnet. Unter Kontrolle. Ganz im Selbst.
Ja, ich war im Selbst. Endlich wieder.

Der Kopf ruhte wieder an der Fensterscheibe. Das kalte Glas spürte ich deutlich an meiner Schläfe. Die Augen waren geschlossen, entfernt spielte leise Musik.
Physisch war ich an diesem Ort, doch mental war ich weit entfernt. Dort, wo nur ich sein konnte. Dort, wo nur ich sein wollte. Dort, wo nur ich sein musste.
Ich hatte mich meinen Gedanken ergeben. Heute. Gestern schon. Am Tag zuvor.

Wenn ich voll bei Bewusstsein war, wie in der Schule, vor anderen Menschen, hörte ich die leisen Stimmen in meinem Kopf. Die bunten Farbwirbel, wie sie mich lockten, doch wieder zu ihnen zu kommen. Doch ich widerstand, wenn ich in der Öffentlichkeit war. Zu gefährlich wäre mein Zustand, wenn sie an der Macht waren.
Und ich kehrte erst zu ihnen zurück, wenn ich allein war, es still war.
Es war einfach.
Ich musste mittlerweile nur die Augen schließen und in die Farben tauchen, um an diesem wundervollen Ort zu sein. Noch vor ein paar Tagen hatte ich mich konzentrieren müssen, um diesen Zustand zu erreichen, nun ging es einfach.

Wenn ich zu ihnen trat, die Farbwirbel direkt vor mir sah, kamen sie zu mir, umgaben mich und drängten mich tiefer in sie hinein, damit ich meinen Ort erreichen konnte.
Ich übergab in diesem Moment ihnen die Kontrolle. Sie hatten mich. Könnten mich an sich reißen. Für immer.
Doch sie taten es nicht.
Ich vertraute ihnen.

An diesem, an meinem Ort war ich bei ihm. War vollkommen von grün und blau umgeben. Hatte keine Angst. Keine Sorgen.
Es gab nur ihn und mich.
Es gab nur Nico und mich.
An diesem Ort, bestehend aus allen Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen an ihn, konnte ich bei ihm sein. Es gab keine Entfernung, kein Alter, keine Menschen, die dagegenredeten, Zweifel erschufen.
Es gab dort einfach uns beide.
Und mehr wollte ich nicht.

Seit ein paar Wochen skypten wir nun. Es war eine Umstellung zu der Stimme, die von irgendwoher zu kommen schien, endlich auch ein Bild zu haben.
Wie sehr ich diese Zeiten doch jedesmal genoss. Oftmals vergaß ich zu antworten, weil ich ihn einfach ansah, mir vorstellte, wie es wäre, wenn er wirklich neben mir sein könnte. Wenn ich ihn berühren könnte. Wenn ich einfach genoss, wie er mich ansah, dieses leichte Lächeln auf den Lippen.

Die Sache mit Samuel war zwei Wochen her, und wenn ich ehrlich war, dachte ich an den gleichaltrigen Jungen nicht mehr. Ich vergaß ihn sogar oft, als Geschichte anzurechnen. Er war für mich irgendwie ohne Bedeutung.
Ob das nun gut oder schlecht war, sei dahingestellt.
Und nun, da Nico und ich und jeden Abend sagten, dass wir uns liebten, ich eigentlich immer an ihn dachte, mich jeder Moment, jede Sache, einfach alles an ihn erinnerte, begann ich mich zu fragen, was wir denn nun eigentlich waren.
War es so wie damals, dass es keine Bezeichnung dafür gab?
Nein...wir waren weiter als damals.
Die Gefühle, meine zumindest, waren noch stärker als damals und ab und zu wunderte ich mich, wie ich überhaupt so viel empfinden konnte.
Ich war doch ein unsentimentaler Mensch, unfähig für Gefühle und Komplimente. Sollte ich im Herzen nicht eigentlich kalt sein? Vor allem nach alldem, was mir schon widerfahren war?
Doch es fühlte sich richtig an, diese Gefühle zuzulassen. Ich brauchte sie nicht zu unterdrücken. Denn zum ersten Mal wurden sie auch wirklich erwidert. Zumindest hoffe, glaubte ich das.
Es musste es wert sein.
Und auch, wenn es mich wieder verletzen würde, für den Moment war alles perfekt. Ich fühlte mich gut.

Doch diese Frage blieb mir trotzdem. Was waren wir? Wie sollte ich es nennen?
Gestern telefonierten wir.

Oft, wenn ich abends allein zuhause war, rief er mich an und wir redeten. Ich konnte nie sagen, über was wir alles redeten, wenn es vorüber war.
Es war alles. Unwichtige Themen, ins kleinste Detail zerkaut und doch wieder nur so, dass sie wieder und wieder aufgegriffen werden konnten. Wir redeten immer, egal über was. Brauchten nie lange nach neuem Stoff zu suchen, glitten von einer Diskussion nahtlos in die nächste. Oft schloss ich meine Augen, wenn er einen längeren Monolog über seine Sichtweise der Dinge hielt, und lehnte den Kopf gegen das Telefon, als wäre es seine Schulter und lauschte einfach seiner Stimme. In solchen Momenten wünschte ich mir mehr als sonst, bei ihm sein zu können.
Doch dieses Mal wollte ich ein Thema ansprechen. Ich wollte ihm diese Frage stellen.
Und so tat ich es einfach.
"Ähm..hey...ist jetzt vielleicht total aus dem Zusammenhang gerissen, aber...was sind wir eigentlich? Also...das zwischen uns..."
Er schwieg eine Weile. Und ich lauschte seiner Stille.
Ich war mir sicher, dass er mit der Frage nicht gerechnet hatte. Zumindest nicht so. Und es brachte ihn aus dem Konzept. (Ein kleiner Triumph meinerseits, wenn ich das anmerken darf)
Er meinte schließlich, dass er mich irgendwie schon als seine Freundin betrachtete, und mein Herz tat einen Sprung. Ich lächelte.
Es war kurz still, ehe er zögernd fragte:
"Wäre...wäre es für dich ok, wenn ich dich so nenne?"
Ich konnte in dem Moment nicht anders. Ich lachte.
"Ja. Das wär mehr als ok."
Wir lachten beide und nach einer kurzen Diskussion, ob wir uns dieses Datum (den 3. Februar) merken sollten, dies aber verneinten, da es etwas mehr als unromantisch war und wir lieber das wählen wollten, wenn wir uns zum ersten Malsehen würden, kehrten wir zu unserem üblichen Gespräch zurück.

Ich wusste nicht, ob ich es nun öffentlich machen sollte, oder nicht.
Er nannte mich seine Freundin, ich ihn meinen Freund.
Sollte das die Welt erfahren?
Sollte sie das aufgetischt bekommen, wogegen sie sich Wochenlang beschwert hatte?
Nein.
Ich würde es vorerst für mich behalten.
Ich wollte in meiner kleinen, perfekten Nico-Welt leben, solange ich das noch konnte.
Denn ich war mir sicher, irgendwer würde sich dem entgegenstellen.
Ich wusste nur noch nicht, wer das sein würde.

Das Tagebuch der singenden FarbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt