1. Januar 2017

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1.Januar 2017

Gestern war Silvester.
Ist es nicht der Traum jedes Mädchens einen Neujahrskuss zu erhalten? Von dem Jungen, den du liebst?
Eigentlich ja schon...

Doch was passiert, was hat es zu bedeuten, wenn man dabei nichts empfindet? Wenn man sich nebenbei auf andere Dinge konzentriert? Zum Beispiel darauf, wie kalt es doch ist...
Ich erinnere mich noch an meinen ersten Kuss vor einiger Zeit. Damals war eine brennende Hitze in mir ausgebrochen und ich hatte nicht denken können. War einfach machtlos an dem Jungen von damals gelehnt und mich gänzlich in den Kuss vertieft...
Doch diesmal?
Was war falsch gelaufen?

Blicken wir auf den Abend zurück. Vielleicht finde ich irgendwann den Grund...

Meine besten Freundinnen und ich hatten vor allein an diesem Abend etwas zu machen. Filme, Fondue und dann Neujahr.
Da wir zur Zeit, und das zum ersten mal in unserer Geschichte, alle drei einen Freund hatten, beschlossen wir auch diese einzuladen. Zu einem Tripledate, wie ich es scherzhaft nannte.
Soweit so gut.
Jeder hatte Zeit und durfte kommen und auch unsere Eltern spielten mit, wenn wir denn gemeinsam essen würden. Wir stimmten zu.
Doch als ich Samuel davon erzählte (er war von der Idee keinesfalls abgeneigt), fragte er mich, ob er davor denn noch mit mir reden könnte. Allein. Nur wir beide. Ich hatte ein schlechtes Gefühl. Vermutlich betraf es den ‚Vorfall' mit seiner besten Freundin und ich hoffte, endlich Klartext gesagt zu bekommen.
Beide Heere pulsierten vor Vorfreude.
Doch zu diesem Gespräch kam es nicht. Er versuchte nicht einmal mich an dem Abend sehr weit von meinen Freunden zu trennen.
Ich hatte anfangs geglaubt Samuel sei schüchtern vor meiner Mom und den anderen Erwachsenen, weil er sie nicht kannte, weil er auch einen guten Eindruck hinterlassen wollte. Ich hätte auch gedacht er sei mir gegenüber schüchtern, wie er es auch war, wenn wir allein waren, nur noch mehr, weil andere in der Nähe waren, uns sehen konnten.
Doch das war nicht so. Ich hatte ihn komplett falsch eingeschätzt. Und das verunsicherte mich.
Er suchte oft den Körperkontakt, fast mehr als meine Beste mit ihrem Freund, die schon ein halbes Jahr zusammen gingen. Ich hatte nicht damit gerechnet, doch ich versuchte so zu agieren, wie immer. Es sollte niemand merken.
Vielleicht wurde Samuel ja langsam warm mit mir. Das war doch ein gutes Zeichen.

Auch beim Essen überraschte er mich. Er redete offen mit den für ihn fremden Menschen, wobei die Freunde meiner Besten schwiegen und hin und wieder nickten. Hatte ich ihn wirklich so falsch eingeschätzt?

Später am Abend zogen wir Pärchen uns zu unserem Tripledate zurück und belagerten die Couch samt Fernseher.
Und im Nachhinein kann ich sagen...ich habe höchstens den halben Film gesehen.

Den Kopf auf Samuels Brust gelegt wollte ich eigentlich nur die Ruhe genießen, die ich in seinen Armen verspürte. Das hätte mir in dem Moment vollkommen gereicht. Schließlich musste man nicht immer auf dem anderen liegen und zeigen, wie sehr man doch zusammen war.
Doch er schien das zu glauben.
Irgendwann erkannte ich schon an einer Kopfbewegung seinerseits, dass er mich wieder küssen wollte. Anfangs fand ich es süß von ihm, bewunderte seinen unerwarteten Mut zu so etwas. Doch irgendwann wurde es mir zu viel.
Ich hatte kein gutes Zeitgefühl an diesem Abend. Und deswegen konnte ich nicht sagen, wie lang der eine Kuss ging. Fünf Minuten? Länger?
Anfangs genoss ich es noch, doch irgendwann wurde es...langweilig?

Wenn ich das so berichte komme ich mir wirklich billig vor. Ich bin keine gute Freundin, das ist mir bereits bekannt, doch nach diesem Abend habe ich fast ein schlechtes...ich habe ein schlechtes Gewissen deswegen.

Ich empfand einfach nach einer Weile nichts mehr. Da war keine Hitze in mir, kein Schauer ging durch meinen Körper. Und meine Gedanken waren wieder da.

Beide Heere kamen zurück und ich erhaschte einen Blick auf ihren Kampf. Rot und blau-grün waren im hellen Aufruhr. Geschrei, ein gewaltiger Stimmenchor, aggressiv, wild, brutal ging durch meinen Kopf und die Farben flackerten.
Ich konnte nicht verstehen, was sie riefen, dafür waren es zu viele, sie redeten zu schnell.
Ich konnte nicht erkennen, wer vorne lag...was mich wieder verunsicherte.
Sollte das rote Heer nicht gerade einen Angriff starten und gewinnen?
Schließlich war ich gerade bei Samuel...küsste ihn doch gerade.
Doch das tat es nicht. Gut, es kämpfte, sehr hart sogar. Doch so auch das blau-grüne.

Und da kam mir ein Gedanke...
Was wäre, wenn das hier gerade Nico wäre? Was wäre, wenn ich Nico küssen würde? Ihn so nah bei mir hätte?

Und ich hasse mich für das, was ich dann tat:
Ich stellte mir vor, Samuel wäre Nico.
Spürte fast schon den leichten Bart, den der Ältere im Gesicht trug. Und ich steigerte mich wieder in den Kuss hinein...

Und da stand ich nun. Sah meinem Freund in die Augen und empfand nichts, nachdem er mich zu Neujahr geküsst hatte.
Ich wusste nicht, was ich nun denken sollte. Machte ich hier einen Fehler?  War ich mit dem falschen zusammen? Wurde mir das jetzt bewusst? Ausgerechnet jetzt?

Den gesamten restlichen Abend lächelte ich nur, sagte einfach ich wäre müde, wenn jemand mein seltsames Verhalten ansprach (obwohl ich bis vier Uhr wach blieb). Jeder schien das zu akzeptieren, und das war mir recht.

Denn ich konnte mich innerlich nicht begreifen.
Ich hatte Samuel hier, doch trotzdem spürte ich die Macht den grün-blauen Heeres in meinem Kopf, wie es das Schwert hob...
Das Geschrei des Roten war leise geworden, wie ein bedrohliches Zischen, das immer mehr einem flehenden Winseln wich. Es verlor. Es verlor...
..und das Schwert senkte sich.

Das Tagebuch der singenden FarbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt