18. Januar 2017 // 20:37

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18. Januar 2017

Und ich dachte, es wäre vorbei.
Und ich dachte wirklich, es wäre vorbei.
Wie konnte ich so dumm sein.

Das rote Heer war vernichtend geschlagen, der dazugehörige Junge aus meinem Leben geworfen.
Ich hatte Samuel lange an der Leine behalten, ihm die Sache vorgespielt, keinen Verdacht in ihm hochkommen lassen. Und währenddessen war die Sache mit Nico parallel weiterverlaufen.
Doch je länger das so ging, desto schlechter fühlte ich mich. Betrog ich meinen Freund, wie ich Samuel noch zu nennen hatte? Auch, wenn ich Nico nicht gesehen, nicht berührt hatte?
In Gedanken, ja. Mir war Samuel egal, es nervte mich schon fast, wenn er schrieb, wenn ich dann wieder freundlich antworten musste, damit er weiterhin in seiner heilen Welt leben konnte.
Denn ich war seine heile Welt. Er schien mit jedem über mich zu sprechen, jeden zu kennen, der auch mich kannte. Und so kam es nicht selten vor, dass mich jemand ansprach mit "Hey, du bist doch mit ihm zusammen!" und ich nur stumm nicken konnte, den Gedanken 'Nicht mehr lange!' brüllend in meinem Kopf.
Nein. Je länger dies parallel lief, desto klarer wurde mir, ich musste es beenden. Je früher, desto besser.
Doch wie sollte ich das anstellen? Ich wollte ihn nicht verletzen. Und welchen Grund sollte ich ihm vorlegen? Etwa, dass ich einen anderen lieber mochte? Nein. Das schmerzte mehr als alles andere. Das wusste ich aus eigener Erfahrung.
Am 18. Januar, ich hatte Samuel seit Silvester nicht gesehen, war jedem Treffen aus dem Weg gegangen, beschloss ich es durchzuziehen.
Ich zitierte ihn her, sagte aber, dass ich nicht viel Zeit hatte.
Ich wollte die Sache bereden, ihm nicht lange etwas vorspielen. Eine halbe Stunde war mehr als genug.

Ich wusste, dass er etwas ahnte, als er das Haus betrat. Er dachte, er könnte sein Unbehagen verstecken, doch ich sah den leicht gequälten Ausdruck in seinen Augen und die Anspannung in seinen Schultern.
Wir küssten uns nicht.

Ich verfluchte mich selbst. Er ahnte etwas, gut. Das hatte ich nun zu akzeptieren und vielleicht war es besser so. Er würde nicht aus allen Wolken fallen. Doch wenn er nun schon so deprimiert aussah, und es nur ahnte...wie würde er reagieren, wenn ich es dann wirklich tat?
Wenn er zu heulen beginnen würde, würde auch ich meine Fassung verlieren. Und das galt es zu verhindern.

Mur grauste vor seiner Reaktion, weshalb ich das Thema vor mir herschob. Ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte. Also tat ich einfach das, was ich am besten konnte: Ich lenkte vom Thema ab.
Ich redete einfach drauf los, brachte in meiner Nervosität schlechte Witze, wie immer also. Er kannte mich nicht gut genug, es zu durchschauen.
Es blieb also wirklich alles an mir hängen. Er würde mir nicht dabei helfen, das Thema anzusprechen. Wie immer. Ich musste den ersten Schritt wagen.

Überlegend kaute ich auf meiner Unterlippe herum, spielte mit meinen Fingern und brach einfach mitten ins Thema.
Ich hatte mir eine lange Rede aufgeschrieben, auswendig gelernt, in der ich ihm schonend die Lage erklärte. Und mit jedem meiner Worte, wurde sein Blick gequälter, glasiger. Doch ich ließ mich davon jetzt nicht mehr abhalten.
Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, ich sah auf meine Füße, um ihn nicht ansehen zu müssen und redete einfach weiter.
Mitten in meiner Rede, in der ich langsam erklärte, dass ich im Moment nicht glücklich war, hörte ich seine Stimme:
"Hast du einen anderen?"
Ich verstummte irritiert, hatte meine Maske aber schnell wieder aufgelegt. Erwartete man das von mir? Hatte ich die Wirkung auf andere, untreu zu sein? Das beunruhigte mich.
Auch wenn er in diesem Moment nicht Unrecht hatte, er konnte es nicht wissen. Ich hatte es niemandem erzählt. So bemühte ich mich um einen kalten Ausdruck in meinen Augen, als ich antwortete.
"Nein."
Er sah mich an, diese gequälten, braunen Augen bohrten sich in mich.
"Ist es wegen Nico?"
Erst da fiel mir ein, dass ich ihm erzählt hatte, dass sich Nico wieder gemeldet hatte. Damals hatte ich es als nötig empfunden, da ich keine Geheimnisse vor ihm haben wollte (obwohl er welche vor mir hatte), doch nun bereute ich es. Hatte er sich das schon länger gedacht? Ich wusste es nicht. Konnte es nicht aus ihm herauslesen.
"Nein."
Wieder gab ich diese gelogene Antwort von mir, bemühte mich um einen leicht abfälligen Ton in meiner Stimme.
Und ich hasste mich dafür, ihn zu verleugnen. Aber es war nötig, ich wollte Samuel nicht weh tun. Und eine andere Aussage hätte dies bewirkt.

So sprach ich dann weiter.

Und er ergriff nur ein einziges, weiteres Mal das Wort. "Meinst du nicht, wir sollten noch etwas warten? Vielleicht wird die Situation zwischen uns wieder besser...?"
Ein kurzer Funke erschien in seinen Augen und er griff hoffnungsvoll nach meiner Hand.
Wie kurz ich in dem Moment doch davor gestanden war, nachzugeben.
Doch ein tiefer Atemzug reichte, um mir meine Fassung zurückzuerlangen, meine Hand seiner zu entziehen und meine Rede aufzusagen:

"Hey. Ich...ich weiß nicht, ob es so gut ist, wenn wir warten...
Es wird uns beide psychisch zerstören, mich zumindest...
Ich finde einfach, dass du jemanden verdienst, der weiß, was er für dich empfindet, der dir das sagen kann, weil ich weiß, dass du es hören willst, lüg dich da selbst nicht an. Ich hab jetzt die ganze Zeit nachgedacht und ich finde es wirklich das beste, für uns beide...
Es tut mir wirklich Leid, aber ich kann es nicht mehr. Ich empfinde einfach nicht das richtige für dich, und das hast vor allem du nicht verdient..
Ich hab es so lang rausgezögert, weil ich dir nicht weh tun wollte und ich konnte es vorhin nicht so sagen, weil ich in deinen Augen genau gesehen hab, wie sehr es dir schmerzt...
Und ich weiß, wie scheiße das grad von mir ist, ich könnt mich selbst ohrfeigen...
Aber meine ganze Aktion hast du nicht verdient. Du bist ein guter Mensch und findest etwas passenderes als mich, da bin ich sehr sicher. Und du wirst verstehen, was ich damit meine.
Die ganze Sache liegt wirklich nur voll und ganz bei mir, es tut mir leid...aber wir leiden beide darunter...und das ist nicht das Wahre."

Nur ich selbst erkannte die einzelnen, versteckten Hinweise auf Nico.

Langsam hoch ich wieder den Kopf, die Miene neutral gehalten, die Maske perfekt sitzend.
Ich war das genaue Gegenteil zu ihm. Er war sentimental und schwach, das sah ich in diesem Moment mehr als sonst. Seine Augen glitzerten und er kämpfte vergebens mit seiner Fassung.
Ich schluckte.
Ich hatte mir die Worte doch sorgfältig herausgesucht. Ich hatte sie sanft gewählt. Hatte ich ihm trotzdem so wehgetan?
Ich konnte es nicht sehen, wenn Männer weinen. Eine Art...schwacher Punkt meinerseits.
"Es tut mir Leid."
Ich hatte meine Stimme zu kaum mehr als einem Flüstern erhoben. Im Augenwinkel sah ich, wie er nickte, den Impuls unterdrückte meine Hand zu nehmen, aufstand und ging.
Ich hörte die Tür hinter ihm ins Schloss fallen. Ich war allein. Es war still. Nur mein Kopf kreischte.

Das rote Heer existierte nicht mehr, der dazugehörige Kerl auch nicht mehr.
Und niemand sprach mich darauf an.

Nun sollte doch alles gut sein, oder nicht? Das Problem war aus der Welt geschafft. Ich hatte Nico und war glücklich.
Sollte es zumindest sein...

Doch icherinnerte mich noch immer an die Worte meiner Mom. Wie sie über ihn dachte.
Die Zweifel hatten sich in das blau-grüne Farbenmeer gemischt, vergifteten es Stück für Stück.
Natürlich versuchte ich es zu verbergen, doch er durchschaute es. Er durchschaute es immer.
Doch was sollte ich tun? Wer würde nicht zweifeln, wenn jeder, den man kannte gegen denjenigen redete, den man liebte? Wie konnte man Vorwürfe ignorieren, die wahr sein konnten?
Vielleicht gab es einen Weg. Doch ich fand ihn nicht.

Doch je mehr ich zweifelte, umso mehr ergriffen ihn die selben Gedanken. Ich wusste, er war psychisch nicht stark genug, um mein Verhalten zu tolerieren, also tat ich alles daran, die schwarzen Fäden loszuwerden.
Die Frage war nur...wie?

Ich rief mir alles in Erinnerung, was Nico und ich schon durchgemacht hatten. Alles, was damals vorgefallen war, positiv wie negativ und wog alles ab.
Ich las den alten Chat, lauschte den Memos, seiner Stimme. Lächelte, wenn ich mich an die Situation damals erinnerte.
Ich kam nach ein paar Tagen zu dem Schluss, dass er, egal was für ein guter Schauspieler er sein mochte, das alles unmöglich hätte vorspielen können.
Nein. Es war unmöglich.
Er war wirklich so bescheuert, so wundervoll bescheuert, wie ich ihn kennengelernt hatte. Ich kannte ihn, und er mich.
Ich liebte ihn, und er mich.

Und ich fand mich mit dem Gedanken ab, dass alle gegen ihn waren. Sie kannten ihn nicht. Und es interessierte mich nicht. Ihre Meinung zu ihm war mir egal. Ich hörte sie mir an, ich akzeptierte sie, doch ich ließ mich davon nicht beirren.
Nicht noch einmal.
Es würde keine Zweifel mehr geben.

In meinem Kopf kehrte nun zum ersten Mal seit Wochen wieder Ruhe ein. Das blau-grüne Farbenmeer sprang in meinem Kopf herum, erfüllte mich mit seinen leisen Stimmen, die zu schnell, zu viele waren, als dass ich sie hätte verstehen können, und beruhigte mich jedes mal, wenn ich mich in ihm verlor.

Von ihm ging keine Gefahr aus.
Dort war ich sicher.
Das war mein Zuhause.

Das Tagebuch der singenden FarbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt