Margate

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Eine Mantelmöwe und gleichzeitig Mensch zu sein war schon etwas besonderes. Nun ja, es gab eben, so wie bei fast allem im Leben Vor- und Nachteile. Ja, und einer dieser Vorteile war eben, dass wir etwas stibitzen konnten, ohne dass die Menschen Misstrauen bekamen. Und genau diesen Vorteil nutzten Leia und ich gerne mal - okay, eigentlich eher sehr oft - aus, so wie an jenem Tag,

Sanft strich der Wind unter meine Flügel, während ich neben meiner Zwillingsschwester Leia in gemächlichem Gleitflug übers Meer auf Margate zusegelte. Unser Zuhause. Ab und zu sah ich zu Leia hinüber, und beobachtete fasziniert, wie die warme Luft ihr schwarz-weißes Federkleid kämmte.
Wollen wir heute noch ins Traumland, Kaia? fragte mich Leia in Gedankensprache. Okay, aber lass uns doch erst noch Essen besorgen. war meine Antwort, woraufhin wir wir Richtung Pier segelten und mit hungrigen Augen auf die Fish&Chips-Bude hinabblickten.
Einen der Tische, die dort standen hatten wir sofort ins Auge gefasst: Dort saßen nämlich zwei Mädchen, die fleißig frittierten Fisch und leckere Pommes aßen.
Holen wir sie uns, riefen Leia und ich wie aus einem Mund und schon im gleichen Moment begannen wir unser Spiel: Blitzschnell landeten wir auf dem Tisch der Mädchen und kreischten los. Während das eine Mädchen ängstlich aufsprang um uns aus sicherer Entfernung anzustarren und zu schreien: "Oh mann, wie ich diese Viecher hasse!", schaute mich das andere Mädchen nur mit großen Augen an. Kurz bildete ich mir ein, das Woodwalkerkribbeln bei ihr zu spüren, doch ich schüttelte das Gefühl schnell ab und begann so zu tun, als wolle ich das noch immer sitzende Mädchen in den Finger zwicken. Nun lief auch sie ein kleines bisschen verängstigt zu ihrer  Freundin (oder war es ihre Schwester?). "Kommt zurück ihr verdammten Möwen", hörte ich sie noch frustriert rufen, doch da hoben wir schon wieder mitsamt dem stehengebliebenen Karton zwei Meter über ihnen.

Kurze Zeit später landeten an einem winzigen Strand, gut hinter den steilen Klippen versteckt. "Tinybay", wie wir ihn nannten war unser Geheimversteck und niemand außer uns und anderen Möwen verirrte sich jemals hierher.

Aus niedriger Höhe ließen wir unsere fettige Beute fallen, um gut landen zu können und uns dann zu verwandeln. Es dauerte nur einen Augenblick, bis wir als nackte Mädchen am Strand standen und zu einem hohlen Felsen flitzten um Unterwäsche, Shorts und absolut identische weiß-schwarze T-shirts daraus hervorzukramen. Wir hatten zwar Schuhe, doch wir gingen trotz der meist großen Hitze oft barfuß. So aßen wir unser fettiges Mahl und unterhielten uns darüber, wie wir am besten ins Traumland kämen. "Also ich wäre für den Möwe-im-Klo-Plan, bist du damit einverstanden, Kaia?" fragte mich Leia mit schiefgelegtem Kopf. Ihre braunroten Augen funkelten schelmisch und ein paar ihrer schwarz-gewellten Strähnen fielen ihr ins Gesicht. "Worauf warten wir noch?", fragte ich zurück und verwandelte mich.

Kurz darauf landeten wir mitsamt unserer Kleidung im Schnabel auf einem kleinen Klohäuschen inmitten von Traumland, dem tollsten Freizeitpark von ganz Margate. Okay, es gab sowieso nur einen Freizeitpark in Margate, aber das heißt doch, dass er der tollste ist, oder? Erde an Kaiaaa! Bist du noch da, oder muss ich beides machen?, riss Leia mich aus meinen Gedanken. Oh, Sorry, du bist die Ablenkung! Auf dieses Kommando flog sie vom Häuschen herunter und setzte sich auf die nächste Palme um Wache zu halten. Momentan war niemand im Klo, doch das könnte sich jederzeit ändern. Deshalb schaute ich mich nicht lange um und flog in die Toilette. Doch wie der Zufall es wollte, kam in exakt gleichen Moment eine schlanke Frau um die Ecke! Doch da kam auch schon die Ablenkung meiner Schwester. Laut hatte sie einen ohrenbetäubendes Gekreische losgelassen, dass man höchstwahrscheinlich mindestens durch den halben Park hören konnte. Diesen Moment des ultimativen Schrecks nutzte ich, um mich schnell in eine Kabine zu verdrücken, mich zu verwandeln und noch schnell zuzusperren. Als ich mich fertig angezogen hatte, und die Frau weg war nahm Leia eine der Kabinen in Beschlag und ich hielt Wache. Das verlief gut, ohne weitere Zwischenfälle.

Bis spätnachmittags fuhren wir Schiffschaukel, Achterbahnen, Freifalltürme und Riesenrad. Aber am besten gefiel uns beiden der Traumfänger, eine Art Looping-Riesenrad, dass sich in alle Seiten bewegt, vor Allem da es sich ein Bisschen so anfühlt als würde man fliegen, nur dass man sich dort nicht so anstrengen muss, um in die Luft zu kommen. Leider konnten wir diesmal nicht mehr so lange im Park bleiben, wie in den letzten Wochen, da die Sommerferien sich dem Ende neigten, und unsere Eltern wollten, dass wie wieder in unseren gewohnten Schulzeit-Schlafrythmus fallen: Früh rein in die Federn und auch früh wieder raus. Das nervte!

Da jetzt deutlich weniger los war, als beim herkommen entschieden wir uns, uns einfach hinter einem dichten Gebüsch zu verwandeln und nach Hause zu fliegen.

Wie immer flogen wir direkt durchs geöffnete Dachfenster in unser Zimmer, machten uns fertig und gingen in die Küche um zu schauen, was es zu Abendessen gab. Und wir rochen es schon von weitem: "Garnelen mit Currysoße!" riefen wir wie aus einem Mund, und waren im ersten Moment sehr begeistert, denn das war unser Lieblingsessen. Doch dann starrten wir uns einige Schocksekunden lang nur an. Wenn Mom unser Lieblingsessen kochte, hieß das, sie hatte uns etwas sehr sehr wichtiges zu sagen! Denn Garnelen waren teuer, und unsere Eltern (Supermarktverkäuferin und "Koch" bei MC Donalds) konnten mit dem Geld was sie verdienten gerade mal das Essen und unsere Hauskosten finanzieren. Als wir in die Küche kamen, sahen wir schon, wie sich unsere Eltern angeregt miteinander unterhielten. Moment mal, Dad? Wenn er schon so früh zuhause war, hieß das, dass die Ankündigung noch ernster sein musste, als wir bisher angenommen hatten.

Noch einmal starrten wir uns entsetzt an, dann räusperte ich mich. "Was ist los?" fragte ich schnell, damit man mir meine Nervosität nicht anmerken kann. "Wir..." begann Mum zögernd "... Also Dad und ich... Wir haben ein Jobangebot bekommen!". Bevor wir uns äußern konnten sprach Dad weiter: "Ihr kennt doch Anya Wilde, oder?" "Anya Wilde?" riefen Leia und ich -natürlich mal wieder absolut gleichzeitig. "Ja, die bekannte Sängerin aus Texas. Sie ist..." Leia ließ ihn gar nicht erst ausreden und warf aufgeregt ein: "Was hat DIE Anya mit eurem Job zu tun?" Jetzt sprach Mom weiter: "Leia, wenn du uns hättest ausreden lassen, dann wüsstest du es längst." "Okay Okay", drängte nun auch ich meine Eltern, "Wir hörn ja schon auf zu schwafeln, jetzt sagt schon." Leia schenkte mir noch einen Du-schwafelst-doch-selber-Blick, dann sprach Mom endlich weiter: "Sie ist ein Woodwalker, ein Schimmel, um genau zu sein und sie will eine Stiftung aufbauen, die unsersgleichen hilft, als Mensch und Tier gleichzeitig zu leben." Ich musste mich zusammenreißen, um nicht wieder dazwischenzureden, und ich sah Leia an, dass es ihr genauso ging. "Sie hat uns zufällig in einem Café hier in der Nähe getroffen und als Woodwalker erkannt. Sie hat uns gefragt, ob wir ihr mit der Stiftung helfen würden, indem wir ab und zu in den hier in England und auch in der Umgebung umherreisen, um andere Wandler zu suchen, die Hilfe benötigen. Wenn wir den Job annehmen würden, würden wir unseren Lebensunterhalt von ihr bezahlt bekommen, und das Schulgeld für die neue Schule, auf die ihr gehen werdet." Eine neue Schule? Na, das war ja was! Fragend und erstaunt blickte ich meiner Schwester in die Augen. Sogleich spürte ich, dass sie dieselbe Frage hatte, wie ich: Wo war diese Schule? War sie weit weg von unserer Heimat? Und war es dort genauso schön wie hier?

Windwalkers - Die Verwandlung der MöwenzwillingeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt