Angriff

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"Wo sind wir hier, wenn ich fragen darf? Ich dachte, Sie fahren uns zum Strand." fragte Elaine, sobald sie sah, wo wir gelandet waren.
Auch Leia, unsere Freunde und ich waren ein bisschen verdutzt, als wir sahen, wo wir waren. Auf einem winzigen Parkplatz mitten im Nirgendwo. Na super, worauf hatten wir uns hier nur eingelassen?!
"Ihr dachtet doch nicht im Ernst, dass ich euch direkt am Strand rauslasse, oder? Sie dürfen mich auf keinen Fall entdecken!" antwortete dieser, während er jedem von uns einen Sandwich gab, den wir schnell runterschlingen mussten.
"Ihr solltet so wenig Zeug wie möglich mit euch herumtragen" begründete er die Eile und gab meiner Schwester wie versprochen das Funkgerät.
Irgendwie hatte ich aber das Gefühl, dass er nur schnell von sich ablenken wollte. Aber das war ja wieder mal nur so ein Gefühl, und Instinkten sollte man ja bekanntlich nicht zu sehr nachgehen...

"Okay, und was sollen wir jetzt tun? Warten?" fragte Leia, als wir am Strand angekommen waren. Ihr Funkgerät lag gut versteckt und gut bedienbar in einer der großen Strandtaschen, die wir bekommen hatten. Ja von wegen wir sollten so wenig wie möglich mit uns herumtragen. "Das ist eure Tarnung" hatte Mr Evans nur ruhig gesagt, als Elaine ihn deswegen angemotzt hatte.
"Geht so nah wie möglich zum Wasser und zieht euch dort um!" antwortete Mr Evans' Stimme aus dem Funkgerät.
Wir sollten schwimmen gehen? War das sein Ernst? So langsam bekam auch ich meine Zweifel, ob die Lehrer es wirklich ernst mit uns meinten. Doch wir befolgten seine Bitte und hatten uns schon nach kurzer Zeit einen Platz direkt am Meer ergattert, an denen wir nun unsere Oberbekleidung auszogen, sodass die Bikinis und Badehosen darunter hervorkamen. Nun kam die Zeit dazu, abzuwarten. Wir rollten unsere großen Strandtücher aus und legten uns drauf.

Als nach zehn Minuten nichts passierte, wurde ich hibbelig und drehte mich auf meinem Handtuch hin und her. Nach weiteren fünf Minuten konnte ich es nicht mehr aushalten und brauchte unbedingt Bewegung. "Leia, Ally, Tim!" rief ich und setzte mich auf. "Space-Taxi-Song" Alle außer Leia sahen mich fragend an. "Hi, Hi, Hi the time!" Plötzlich setzte auch Elaine sich auf und machte weiter: "Space-Taxi to the Sky!" Das erste, was mir hierbei widerwillig in den Sinn kam, dass die Spinnen-Wandlerin eine wunderschöne Singstimme hatte. Um die Überraschung zu verbergen, klatschte ich mit meinen Händen einen Rhytmus und sang den Schluss: "Feuersalamander, Beine auseinander, Beine wieder zu und raus bist du!" währenddessen tanzten Leia und Elaine den Tanz dazu, natürlich extra bescheuert. Auf einmal war plötzlich alles fiese an Elaine verschwunden, ihre hochnäsige Haltung, ihr zusammengekniffener Gesichtsausdruck und sogar das Gefühl in mir, sie von mir weghaben zu wollen. "Come on!" sagte Elaine voller Enthusiasmus und im Nu sangen Alle das Lied nochmal. Sogar Tim und Ally, die anscheinend keine Ahnung hatten, was wir wollten.

Mitten im Lied hörte ich plötzlich jemanden kreischen. Ich zuckte zusammen. Aber weniger wegen dem Schreck - ich war so gut wie gar nicht schreckhaft -, sondern eher weil mir in diesem Augenblick der Gedanke kam, dass wir doch aufpassen hätten sollen.  Doch trotz dem Gedanken, der wie ein Blitz durch meinen Körper fuhr handelte ich schnell: Blitzartig fuhr mein Kopf herum und ich sah mir alles Verdächtige genauer an. Als erstes vielen mir die riesige Menge an Menschen auf, die entweder Alle auf etwas zeigten, oder als Traube um irgendeine Sensation standen. Kurz dachte ich darüber nach, was ich als nächstes tun sollte, bis ich zu dem Entschluss kam Leia ein Zeichen zu geben und gleichzeitig ihr Handy herauszuziehen um an das Geschehen heranzuzoomen. Leia schaltete sofort das Funkgerät ein und informierte unseren Lehrer darüber, was gerade geschah. Ally, Tim und Elaine waren dabei - so wie die meisten Menschen gerade am Strand - sich mitten in das Gedränge zu stürzen um sich Alles anzusehen.
Mit meinem Handy konnte ich nur undeutlich einen Greifvogel entdecken, der in sanftem Tempo hoch über den Köpfen der zusammengequetschten Menschen Kreise drehte. Wir hatten sie gefunden. Die Frage war nur, was wir jetzt tun sollten.
Kannst du mit ein Bild schicken? fragte ich Elaine, die in der Menschenmasse am weitesten vorgedrungen war in Gedankensprache. Anscheinend beherrschte Elaine die Gedankensprache ebenso gut wie ich, denn prompt flackerte ein Bild in meinen Gedanken auf. Elaine stand ganz vorne, in der ersten Reihe des Geschehens sozusagen und starrte auf ein ungefähr 8-jähriges Mädchen, das mit angstverzerrtem Blick auf einen großen Vogel starrte, der sich schräg von oben auf Brusthöhe des Mädchens stürzte.
Vom Schreck tief getroffen, blieb ich mit offenem Mund stehen und merkte nicht, wie sich meine Zehennägel langsam aber sicher zu Möwenkrallen transformierten und sich in meine in den Sand bohrten. Meine Gedanken drehten sich nur um das kleine Mädchen. Das Mädchen, dass gerade gestorben war. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, doch auch das realisierte mein Gehirn nicht. Nur wenige Wörter waren in meinen Gedanken, doch die wiederholten sich ständig: Mädchen. Tod. Meine Schuld! Ich weiß nicht, wie lange sie in meinem Kopf herumgeisterten, doch im Nachhinein fühlte es sich an als wären es Stunden gewesen. Viele qualvolle Stunden in einem unendlichen Ozean aus Schuld. Schuld, die ich niemals wieder gutmachen können würde.
Irgendwann mischte sich in dieses Schuldgefühl noch etwas anderes ein, es war etwas dumpfes, und es pochte in meinem Kopf. Jemand redete mit mir. Langsam aber sicher, begann mein Gewissen sich wieder mit meinem Körper zu verbinden.
"Kaia!" war das erste was ich wieder hören konnte. "Kaia!" Nachdem sich das Wort noch dreimal wiederholt hatte, wachte ich endgültig aus meiner Schockstarre auf. Leia stand vor mir und starrte mir in die Augen.
"Verwandle dich zurück!"
Ich schaute an mir herunter, und bemerkte, dass meine Arme von Federn überdeckt waren und meine Füße kleiner geworden und orange mit langen Vogelkrallen. Heilige Kloake sei Dank war die Menschenmenge immer noch so versammelt, dass sie sich nicht dafür interessierten, was die anderen taten. Und niemand versuchte auch nur zu helfen. Alle sahen entweder mitgenommen oder fasziniert aus, doch niemand von denjenigen, die ich sehen konnte, war verletzt. Und Sofort begannen meine Schläfen, erneut zu pochen, doch diesmal ließ ich mich nicht davon mitnehmen und stürmte wie von einem riesigen Schwarm Wespen gestochen mitten in die Menge. Irgendwie hatte ich das dringende Bedürfnis, zu Elaine zu gehen und sie zu umarmen.  Völlig unkontrolliert drängelte ich mich durch die Menschenmenge, bis ich endlich bei ihr ankam. Die von mir gedrängten Menschen bekamen kaum etwas mit, so verstört waren sie. Ich hatte Angst, das Mädchen zu sehen, doch mein Drang zu Elaine zu wollen siegte und ich quetschte mich auch durch die letzte Reihe von Menschen.

Elaine kniete über dem Mädchen und presste ihre Hände gegen einen tiefen Kratzer zwischen seinen Brüsten. Moment mal, das Mädchen blutete?! Das konnte ja nur heißen, dass sie überlebt hatte! Nun ging alles ganz schnell. Ehe ich darüber nachdenken konnte, quetschte ich mich zurück in die Menge, und schnappte mir das nächstbeste Strandtuch aus den Händen einer Frau ehe ich zurückrannte. Per Gedankensprache wies ich Elaine an, den Oberkörper des Mädchens hochzuheben, sodass ich das Weiche Tuch fest um die Wunde zu wickeln.
Erst jetzt realisierte ich, dass einer der Vögel - ein Steinadler um genau zu sein - schlaff am Boden lag und einer seiner Flügel in einem schmerzhaft aussehenden Winkel von seinem Körper abstand. Wenn nicht das Mädchen gewesen wäre, hätte ich Mitleid mit ihm gehabt, doch mein Wissen, dass er einer der Unruhestifter war hielt mich strikt davon ab. Aber im Moment konnte ich auch nicht darüber nachdenken, was wir mit ihm machen sollten, ich war nur heilfroh, dass es dem Mädchen gut ging.

Windwalkers - Die Verwandlung der MöwenzwillingeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt