~ Kapitel 12 ~

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"Mr. Streiter, Bitte. Beginnen Sie doch..."

- Noë's POV -

Gaël erhebt sich, seine Hände zittern und die meisten Blicke - die auf ihn gerichtet sind - sind feindselig. Was hat er diesen Leuten angetan, dass er solch abwertende Blicke verdient hat? Ich verstehe es echt nicht. Sein Heft zerknittert er an den Rändern, so fest klammert er sich daran und dann räuspert er sich.

Er beginnt zu lesen:

"Kalte, kalte Winternacht,
der tägliche Ablauf düster sacht,
Mein Herz eiskalt und dunkelgrau,
Trainier ich mit dieser Frau.

Sprung, Sprung und doch gefall'n,
Das Feuer ist am Abflau'n.
Dunkle Gedanken, dunkle Tracht,
und es wird wieder Nacht.

Schlechte Träume, schlechter Schlaf,
jeder Nacht der Albtraum, der mich traf,
Gequält seit nunmehr einem Jahr,
eine Nacht ohne ihn, einfach undenkbar.

Die verletzten Blicke, immer da,
Ihr wisst es nicht doch ich bemerk sie oh ja..
Und wie es mein Herz zerreisst
Doch ihr wisst nicht was es heisst.

Jede Nacht, jeden Tag,
verletz' ich jene Menschen die ich mag,
mein Herz blutet, mein Herz weint,
Alles Grau auch wenn die Sonne scheint.

Mein Retter zerstört,
Eines Morgens ich ihn nicht gehört.
Zu spät los, zu spät hier,
Nehm ich ihn ins Visier.

Er ist Fremd, nicht von diesem Ort,
Ich will ihn wieder fort.
Doch ich seh ihn schweben,
Sprüre mein Herz sich erheben.

Entflammt mein Herz,
Weggeblasen jeder Schmerz,
Ich will ihm zeigen was ich kann
Und ich weiss, ich zieh ihn in meinen Bann.

Es war der Tag an dem es Begann.."

Er verstummt und die Klasse ist in betretenes Schweigen gehüllt. Auch wenn sie ihn nicht mögen, müssen sie zugeben, dass es gut geschrieben ist.
Natürlich kann ein gewisser Jemand nicht auf die Schnauze sitzen: "Ich dachte, das hier soll ein Gedicht über unsere Ferien werden. Und nicht ein Gedicht, geschrieben für eine Selbsthilfegruppe?"  Wütend schaue ich in seine Richtung und erhebe direkt danach auch meine Stimme. "Mr. Singer, woher wissen Sie, wie Gaëls Ferien waren? Waren Sie immer bei ihm und können deswegen sagen, dass nicht genau DAS in seinen Ferien der Mittelpunkt war?! Es ist respektlos von Ihnen, solch Ignorante Sätze zu äussern."
Joel will wieder zu einer Antwort ansetzen, doch Mrs. Garner kommt ihm zuvor. "Meine Herren benehmen Sie sich! Ich dulde keinen Streit in meinem Unterricht.", ihre Stimme donnert durchs Klassenzimmer. Etwas versöhnlicher wendet sie sich dann an Gaël. "Mr. Streiter, ich danke Ihnen, dass Sie solche Gedanken mit uns geteilt haben.", und an die ganze Klasse gewandt, erwähnt sie: "Es gibt kein Richtig oder Falsch bei Gedichten. Jedes ist auf seine eigene Weise einzigartig und wundervoll."

Mit diesen Worten ist das Thema für sie beendet und sie bittet die nächste Person, das Gedicht vorzutragen. Ich höre nur noch halb zu, immer wieder gehen mir Gaël's Worte durch den Kopf.

Ich seh ihn schweben,
spüre mein Herz sich erheben...

Vom Kontext her, könnte diese Beschreibung auf mich zutreffen. Bei unserem ersten Treffen in der Eishalle.

Der Tag an dem es begann..

Was begann? Ich muss es wissen. Ich zerbreche mir den Kopf darüber.  Bald schon klingelt es und ein Junge, mit mir unbekanntem Namen trägt noch sein Gedicht vor. Irgendetwas über Autos.. "Ich sehe Sie alle dann Freitags! Keine Hausaufgaben, eine schöne Woche euch allen! Geniesst euren Nachmittag."
Mrs. Garner packt ihre Sachen zusammen und wartet geduldig, bis alle den Raum verlassen.
Gaël läuft an ihrem Pult vorbei. "Mr. Streiter, Ihr Gedicht war wie immer erstklassig. Ich freue mich, wieder mehr von Ihnen zu lesen." Er lächelt dankend und geht dann weiter.

wieder erstklassig.. mehr von Ihnen lesen..

Schreibt Gaël etwa regelmässig? So viele Fragen, so wenig Antworten. Ich muss unbedingt einmal mit ihm darüber reden. Über alles hier..
Ich wünsche meiner Lehrerin einen schönen Nachmittag und verlasse das Schulzimmer. Vor der Tür sehe ich, wie Gaël von Joel und seiner Truppe abgefangen wird. Wie schon einmal miterlebt, halten ihn zwei und Joel holt zum Schlag aus. Ich stürme los und schubse ihn von Gaël weg. Voller Wut schaue ich die beiden Mitläufer von Joel an und sie lassen Gaël augenblicklich los.
"Hats vorhin nicht gereicht Joel? Wie wenig Hirn ist denn bitte in deiner Birne?", mit verspottendem Blick beobachte ich seine Reaktion. Mit rotem Kopf steht er auf, wischt sich den Staub von der Hose und dreht um. Er pfeift seine Hündchen zu sich und die beiden flankieren ihn.
Der ganze Flur ist still, alle Schüler starren mich entsetzt an und einige beginnen zu tuscheln.
Ohne ein Wort zu Gaël direkt zu sagen, laufe ich Richtung Ausgang, auf dem Hof direkt zu Lori's Wagen. Ich öffne die Beifahrertür und schmeisse mich auf den Sitz. Den Rucksack platziere ich auf meinen Oberschenkeln.
"Fahr bitte los Tantchen." - "Wird man hier nicht einmal mehr begrüsst?", ruft diese empört auf und ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange. "Tut mir leid, fahren wir?" Lori lächelt, startet den Wagen und fährt los.
"Wie war dein erster Schultag hier Noë?"
Ich schaue Lori etwas verstört an. Dieser Tag war aufwühlend.. Zuerst will Gaël, dass ich ihn beschütze und dann ist er wieder angepisst.. In Deutsch schmettert er dann so ein Gedicht hin und wirkt so stark und entschlossen, doch sagt nichts, wenn Joel und seine Crew ihn wieder blossstellen...
"Er war etwas anstrengend.", antworte ich nur und schaue aus dem Fenster. Die Bäume - der Allee - rauschen an uns vorbei.
Lori's Handy vibriert. "Noë, schau bitte wer mir geschrieben hat." Ich entsperre ich Smartphone und sehe seinen Namen.

Streiter G.

Ich lese ihr die Nachricht vor. "Ich komme heute Abend nicht ins Training, ich fühl mich nicht besonders. Hole es nach. Gaël."

Lori flucht leise und drückt ein bisschen mehr auf's Gaspedal. Sie ignoriert jeden Hinweis von mir, dass sie doch bitte etwas langsamer und vorallem vorsichtiger fahren soll und kommt in Rekordzeit bei unserem Haus an.


Es ist mittlerweile 20 Uhr und ich bin immernoch in der Eishalle und trainiere mit Lori.
Komischerweise bin ich heute besser als sonst und das merkt auch Lori.
"Noë, dein Stehvermögen ist heute echt überraschend gut! Wie lange kannst du noch so laufen?" Schwer atmend laufe ich zu ihr an die Bande ran und lasse meinen Kopf hängen. Ein paar Strähnen haben sich von meinem Pferdeschwanz gelöst und hängen in mein verschwitzes Gesicht. "Nicht mehr lange denke ich.", meine Stimme ist eher ein keuchen, als wirkliches Sprechen.
Lori streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht. "Du warst heute wundervoll. Ich bin stolz auf dich. Geh unter die Dusche und zieh dich um. Ich räume in dieser Zeit die Anlage weg."
Ich nicke und verschwinde in die Umkleide. Befreie mich aus meinen verschwitzten Kleidern und steige müde unter die Dusche. Gründlich seife ich meine Haare ein und wasche den Schweiss von meinem Körper. Ich drehe das Wasser auf kalt, um wieder wach zu werden und hüpfe etwas erfrischter aus der Dusche. Ich ziehe bequeme und vorallem saubere Trainerhosen an und dazu einen Hoodie.
Am Eingang wartet Lori schon und wir fahren schweigend zurück. Da ich keinen Hunger habe, verabschiede ich mich von Lori und lege mich ins Bett, schalte meine Musik ein und schlafe ein.
Mein letzter Gedanke?

Was Gaël heute Abend gemacht hat...

Und plötzlich ändert sich Alles..Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt