~ Kapitel 15 ~

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Wir sitzen in der Bibliothek. Genauer gesagt in der Abteilung für Literatur. Nicht weil wir Literatur mögen, sondern weil hier niemand ist, der uns belauschen könnte. Gaël hat neben mir Platz genommen und sein Kopf ruht auf meiner Schulter.
"Duuu Noë?", Gaël hat diese unschuldige, süsse Stimme aufgelegt und gebe ein zufriedenes, lang gezogenes 'Hm' als Antwort.
"Was willst du irgendwann unbedingt machen?" Er hebt seinen Kopf, dreht sich ganz zu mir und schaut mich an. Wieder versinke ich in diesem Grün, bevor ich zögernd antworte:

"Ich will irgendwann ein Tattoo, eine Lotusblüte um genau zu sein."
"Warum denn eine Lotusblüte?"
Ich wende den Blick ab, so dass er die Trauer in meinen Augen nicht sieht. "Das ist eine lange Geschichte, Gaël... Eine lange Geschichte."
"Wenn du sie mir irgendwann erzählen willst, ich würde mich freuen!", er legt seine Hand auf meine und ich verschränke unsere Finger ineinander.

Flashback

Es klopft an der Tür und sie wird geöffnet. Das erste was ich sehe ist ein grünes Fellknäuel, ich erkenne Lampi, meinen Plüschesel. Lori streckt den Kopf rein und fragt, ob sie eintreten dürfe und ich bejahe schnell. Ich klammere mich an meinen kleinen Plüschesel, als könne er mir die Schmerzen nehmen. Die physischen Schmerzen, denn ich bin so zugedröht mit Schmerzmittel, dass man mir vermutlich noch mehr Knochen brechen könnte, ohne dass ich etwas merke.
Ich beisse in Lampis Ohr. "Wo ist Mama?", frage ich und Lori schaut mich traurig an. "Sie wird nicht kommen, Noë. Du weisst doch, die Arbeit.." ich schweige. Ich mag jung sein, doch trotzdem weiss ich schon, dass es nicht okay ist, sein Kind nicht zu besuchen, wenn es vom Auto erfasst worden ist.
Lori greift in ihre Tasche.
"Deine Mama ist zwar der Meinung, dass es nicht zu dir passt.. Aber es könnte noch niedlich aussehen." Sie streckt mir eine kleine, schwarze Schatulle entgegen und ich fasse vorsichtig nach ihr. Neugierig was darin sein könnte.
"Mach schon auf Kleiner.", sagt sie mir und drückt einen sanften Schmatzer auf meine Haare.
Mit zitterigen Händen öffne ich die kleine Box. Das Licht fällt auf die kleinen, fein eingearbeiteten rosa Steinchen. Die Blume ist an ein zartes Silberband befestigt. Vorsichtig nehme ich es aus der Schachtel und drehe es. Am Verschluss ist ein halbes Herzchen, ein halbes Unendlichkeitszeichen eingraviert.
Meine Tante streckt mir ihr Handgelenk entgegen und ich sehe es glitzern. Sie trägt dasselbe Armband. Jetzt dreht sie die Seite so nach oben, dass ich ihren Verschluss sehe.
"Ich habe das Gegenstück zu deinem Anhänger Noë. Du bist wie ein Sohn für mich, wenn dir das Armband gefällt würde ich es schön finden, wenn du es tragen würdest."
Langsam sammeln sich die Tränen in meinen Augen. Nie hat meine echte Mama sowas zu mir gesagt. Nie hat sie mir ein so persönliches Geschenk gemacht. Ich nicke, zuerst langsam und kaum sehbar. Dann immer fester, bis mein blondes Haar ungezähmt herumwirbelt. "Ich will es tragen Tante Lori! Du bist wie die Mama, die ich mir immer gewünscht habe."
Zu Tränen gerührt hilft mir Lori beim Anziehen des Bandes. "Wenn das Band zu eng wird sag es mir, dann gehen wir zum Silberschmied und lassen es vergrössern."
Wieder nicke ich, den Blick auf die Blume aus Edelsteinen gerichtet.
"Das ist eine Lotusblüte aus rosa Smaragden. Die Lotusblüte symbolisiert dein reines Herz und der Smaragd steht für Schönheit und Ausgeglichenheit. Auf dass du so wunderschön bleibst mein Prinz."

Flashback Ende

Seit diesem Tag trage ich das Armband immer. Nur haben Lori und ich es so umarbeiten lassen, dass ich es als Fusskette und als Armband benutzen kann. In der Schule und Freizeit trage ich es am Fussgelenk, da es ziemlich wertvoll ist. Habe ich Training oder Wettkampf, so trage ich es als Armband.
Wir reden noch etwas über belangloses Zeugs, bevor es klingelt und wir uns schwermütig auf den Weg machen. Jetzt steht Geo an, dann ne Doppelstunde Französisch und heute Abend haben wir wieder Training.

-Gaël's POV-

Geo und Französisch verliefen ruhig. In der grossen Pause wurden Noë und ich zwar blöd angestarrt, aber man hat uns in Ruhe gelassen. Zum Glück. Lori holt Noë von der Schule ab und nimmt mich auch direkt mit. Wir plappern über unseren Tag. Vor meinem Haus bleibt Lori stehen und wartet, während ich meine Sportkleidung hole. Ich schliesse die Tür auf und renne hoch in mein Zimmer. Während ich durch mein Zimmer schwirre wie ein fleissiges Bienchen, klopft es an meiner Zimmertür.
"Ja?", rufe ich fragend in Richtung Tür.
Ohne eine weitere Vorankündigung steht meine Mom im Zimmer. Ihr schönes Haar hat sie unter einem Badetuch versteckt.
"Mama!", schreie ich. "Ich hätte nackt sein können."
Missbilligend schnalzt meine Mutter mit der Zunge. "Und? Ich habe dich schon oft nackt gesehen also hab dich nicht so."
"Trotzdem, das ist jetzt was anderes." Quengel ich weiter.
Sie beginnt zu schmunzeln und bevor ich fragen kann was das soll, kommt die klärende Antwort: "Wenn dir das peinlich ist, solltest du vielleicht etwas leiser sein."
Ich begreife im ersten Moment nicht, was sie sagen will. Plötzlich macht es klick und ich werde total rot, während sie laut lachend wieder aus meinem Zimmer geht. Am Geländer im Flur haltet sie noch einmal. "Danke übrigens für das Essen gestern, es war himmlisch zu Starkoch."
"Gerne Mama, ach und Mom?"
"Ja, Gaël?"
"Ich hab heute Abend wieder Training.. Lori meint, ich solle an den Landesmeisterschaften mitmachen."
Sie lächelt mit glücklich an. "Dann läufst du wieder wie früher?"
"Ich glaube ja.", sage ich verlegen und lächle sie ebenfalls an.
"Wer ist der Grund?"
"Ich... Ach schau doch mal beim Training vorbei."
Lachend gehe ich mit der fertig gepackten Tasche aus dem Zimmer nach unten. Dann direkt nach draussen zu Lori im den Wagen.
Glücklich setze ich mich neben Noë und winke meiner Mom zu, die am Hauseingang steht.

Und plötzlich ändert sich Alles..Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt