Unvernunft aus Überzeugung

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Wir sitzen zu viert im Wohnzimmer und schauen uns das Unterhaltungsangebot der deutschen TV-Industrie an. 
Das Angebot ist allerdings scheiße. Es läuft mal wieder nur Mist im Fernsehen. Aber zur Not guckt der Teufel RTL... oder wie war das noch mal? Ist ja auch egal.
Es läuft jedenfalls das berühmte Vormittagsprogramm des erwähnten Senders, im Volksmund auch liebevoll "Asi-TV" genannt.
Leider hat das Programm nichts mit Asien zu tun, stattdessen beobachten wir Paul (54) und seinen Kampf gegen die Fettleibigkeit.
Wir alle erkennen, dass uns das echt zu blöd ist und Alex schaltet um.
Er macht's nicht besser.

Jemand schlaues sagte einmal: "Was ist die Steigerung von RTL? RTL II."
Er hatte Recht.

Nun geht es nicht mehr um Paul (54), sondern um Jerome (18), der mit seinem Abschlussjahrgang der Waldorfschule nach Mallorca gereist ist um sich die letzten paar Gehirnzellen wegzusaufen, die nicht schon im voraus aufgrund von mangelnder Belastung kapituliert haben. In diesem Sinne: Prost. 

Albrecht erkennt auch hier, dass wir damit nicht unseren weiteren Vormittag verschwenden wollen und zappt weiter zum nächsten Kanal.
Als ich sehe, dass uns nun in einer "Doku" beigebracht wird, dass Hitler noch lebt und eine Basis auf der dunklen Seite des Mondes betreibt, muss ich das Wort ergreifen.

"Was ist eigentlich aus dem Fernsehen geworden?", frage ich in die Runde.
"Naja, im Grunde genommen senden die verschiedenen Kanäle immer das, was die Leute gucken wollen. Reality TV zum Beispiel sorgt dafür, dass sich der Zuschauer über die komischen Gestalten im Fernsehen erhaben fühlt und sich eher als funktionierendes Glied der Gesellschaft wahrnimmt. Dokus über Aliens und andere fiktive Tatsachen funktionieren, weil Menschen immer das glauben, was sie glauben wollen. Wahrheit wird heutzutage immer mehr subjektiv und die Leute hören eher auf ihr Bauchgefühl als auf Tatsachen. Außerdem macht es keinen Sinn das Fernsehen so zu verteufeln, denn es ist sowieso auf dem absteigendem Ast. Streaming Dienste wie Netflix gewinnen immer mehr Zuschauer und machen das traditionelle Fernsehen obsolet. Kein Wunder also, dass Sendeanstalten immer dümmere Inhalte produzieren, wenn sie die anspruchsvollen Zuschauer sowieso schon verloren haben.", antwortet Alex auf meine rhetorische Frage.
"Oh", sage ich. "Das macht Sinn."
Ich drehe mich nach vorne und muss das gesagte zunächst einmal verarbeiten.
In der Zwischenzeit geht Alex in die Küche und will sich was zu essen machen.
"Na, immerhin braucht man das Fernsehen noch für die Nachrichten", sagt Steven und schaltet auf einen Nachrichtensender um.

"Nachdem die von Extremisten gelegte Bombe in Berlin noch rechtzeitig entschärft werden konnte, wird nun nach einem Motiv der Täter gesucht.", sagt der Nachrichtensprecher.

"Ach Scheiße. Schon wieder so'n Arschloch der meint er könnte die Welt mit Gewalt verändern.", sage ich.
"Vermutungen legen nahe, dass es sich um einen terroristischen Anschlag gehandelt haben könnte.", sagt der Nachrichtensprecher.
"Das ist auch wieder doof ausgedrückt", ermahne ich. "es werden gleich wieder Dinge behauptet, deren Wahrheitsgehalt noch nicht annähernd belegt worden ist. Jeder hätte die Bombe legen können. Terroristen, Nazis, Hooligans, Veganer... alle verdächtig."
"Wenns die Veganer waren, war's bestimmt ne Kalorienbombe, was?", scherzt Albrecht.
"Aber versteht ihr was ich meine?", frage ich "Nichts funktioniert hier mehr gescheit. Alles geht den Bach runter. Besonders die Vernunft."

 "Hey Jungs, aus Ketchup, Butter und 3 Gewürzgurken lässt sich nicht wirklich was kochen. Hat wer Bock auf 'nen Burger?", fragt Alex aus der Küche.
"Selbstverständlich!", sage ich und krame einen Gutschein aus meiner Hosentasche. 10 Chicken Nuggets für 1,59€. 

Als wir am essen sind, fällt es mir auf:
"Dass an 10 Chicken Nuggets für 1,59€ was faul ist, würde sogar Paul (54) realisieren.
Sie trotzdem zu essen... das ist die beste Metapher für unsere derzeitige Situation.
Unvernunft aus Überzeugung. 
Oder in anderen Worten: Manche Sachen sind leider geil.", sage ich mit vollem Mund.



"Warum schreibst du eigentlich sowas unnötig gesellschaftskritisches?", fragt Albrecht.
"Weil es 5 Uhr morgens ist, als ich dieses Kapitel schreibe", sage ich und drehe mich zu Albrecht um, der hinter mir an meinem Schreibtisch steht und entdeckt hat, das ich ein Buch über unsere WG schreibe.

"Ein Buch über uns. Aha. Aber das ist so ja nie passiert. Wir haben gar keinen Fernseher", gibt mir Albrecht zu bedenken.
"Ja, dadurch, dass ich mir einige Sachen nur ausdenke, kann der Leser nicht wissen, was davon jetzt wahrheit ist und was Fiktion."
"Das ist ja wie bei X-Faktor.... Moment mal.. schreibst du gerade mit?", fragt Albrecht.
"Jup", sage ich und schreibe mit.
"Auch das hier?", fragt Albrecht.
"Jup", sage ich und schreibe mit.
"Einfach die vierte Wand durchbrechen... Du bist'n Nerd", sagt Albrecht und geht wieder.

Albrecht weiß jetzt also, das ich ein Buch über unsere WG schreibe. Na gut. Lesen wird er es sowieso nicht.



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