2. Eine Morgenrunde

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Ich stellte mir den Handywecker jeden Tag auf sechs Uhr. Schlafmangel verkürzt die Lebensdauer, hatte ich gelesen und Lebenszeit hatte ich noch reichlich. Der eigentliche Grund war allerdings, dass ich weg sein musste, bevor meine Eltern aufstanden.

Seit Wochen schlich ich mich um sieben aus dem Haus und joggte zur Schule. Nicht, dass es schneller war als der Bus, es war bloß, dass ich einmal nicht um Erlaubnis fragen musste und das gefiel mir.

In der Küche machte ich Frühstück, aber nur für mich und das brachte mich zum Lächeln. Auf eine bescheuerte Weise hatte ich mit dem früh Aufstehen gewonnen.

Der Kühlschrank bot mir ein trauriges Bild. Zwei Scheiben Käse, ein paar Eier, etwas Milch und eine Kiste Bier.

Ich überlegte nicht lange und griff nach der Packung Cornflakes, die auf dem Regal stand. Mit einem Tropfen Milch fiel mein Blick auf den Küchenboden und obwohl ich ihn gestern geputzt hatte, glaubte ich, hier und da, zwischen den grauen Fliesen und dem Schmutz, getrocknetes Blut zu sehen.

Es war nicht wirklich da, aber für mich eben schon und es würde auch immer bleiben, so, wie die Delle in meiner Zimmertür und die Albträume.

Ich schlich nach oben, um mich dem Schlachtfeld zu stellen, dass mein Vater hinterlassen hatte. Ein brauner Fleck von der Größe einer Zwetschke prangte auf meiner Wange, umrahmt von einigen Locken Haar, die farblich gut dazu gepasst hätten, wäre es nicht so ein makabrer Anblick gewesen.

Mein Vater hinterließ seine Spuren überall, im Kühlschrank stand immer Bier und das ganze Haus stank danach, wenn er es trank. An den Wänden des Flurs hingen alte, verstaubte Bilder seiner Familie die ich nicht anfassen durfte, die niemand anfassen durfte. Im ganzen Haus lag dieser bedrückende Geruch seines Aftershaves, der mich an Schläge in meiner Kindheit erinnerte, weil er mir nur näher als eine Handlänge kam, wenn er mir weh tun wollte.

Und manchmal, da hinterließ er seine Spuren an mir. Das Haus gehörte ihm aber ich nicht.

Meine Hand wanderte zu einer kleinen schwarzen Tasche, die mir helfen würde, wieder okay auszusehen.

Zumindest nicht geschwollen.

Draußen schlug mir die kalte Luft ins Gesicht, ich hatte zwei dicke Hoodies an und bekam trotzdem sofort Gänsehaut. Die junge Sonne hatte die Farbe eines saftigen Pfirsichs während sie über den Dächern der Häuser aufging. Ich warf einen Blick auf mein Handy. 7:16

Gierig zog ich die kalte Morgenluft ein und rannte los, als hätte ich es eilig, alles zurücklassen. Die Steine der Straße knirschten wie Eis unter meinen Sohlen. Der Wind verfing sich in meinen Haaren und wirbelte sie im Licht der Morgensonne herum.

Mein Gesicht war hochrot, jemand hatte meine Luftröhre in Brand gesetzt.

Wie kleine Messerstiche fühlte sich der Schmerz in meinen Muskeln an aber ich rannte noch. Ich wollte schauen, wo meine Grenze war und was danach kam, also biss ich die Zähne zusammen und schlang meine Hand um mein braunes Handgelenk. Hätte mein Vater nur ein bisschen fester zugedrückt, könnte man seine Fingerabdrücke sehen.

Sterne tanzten auf meiner Netzhaut, Adrenalin rauschte durch meine Adern, kurzum: ich hatte mich noch nie so lebendig gefühlt.

Das Gebüsch fing mich unsanft auf, als ich mich hineinstürzte. Meine Hände krallten sich wie Klauen an die spitzen Äste, rissen einige mit und fanden schließlich irgendwo Halt. Ich beugte mich nach vorne und spuckte dicken Speichel auf die Erde.

Die Welt entglitt mir, alle Farben flossen ineinander und vermischten sich zu einem dreckigen schwarz. Es war als würden tausende Raben die Sonne verdecken.

Das letzte das ich spürte, war mein Herz, das aus meinem Brustkorb zu brechen drohte.

"Hannah? Um Gottes Willen, geht es dir gut?"

Ich öffnete die Augen auf deren Netzhaut eben noch Sterne getanzt hatten. Naomi reichte mir die Hand und zog mich hoch.

"Bist du bis hier her gerannt? Du siehst schrecklich aus."

"Danke."

"So war das nicht gemeint."

Ich strich mir eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht, das Adrenalin noch in meinen Adern. Ich fühlte mich erschöpft aber gut. Irgendwie unbesiegbar. "Warum bist du hier?", fragte ich.

"Das ist mein Schulweg?"

"Warum hast du nicht den Bus genommen?"

"Ich habe den Bus genommen, aber naja-. Ich dachte wenn ich den Umweg gehe, kann ich schneller in der Schule verschwinden, ohne am Parkplatz vorbei zu müssen und - ja."

"Und was?"

"Caroline begegnen zu müssen."

"Mist."

Prinzessin Caroline war erste in der Thronfolge der Tussen-Gang, gleich hinter Jenna, der Oberschlampe.

Langsam setzte ich mich in Bewegung. "Ist irgendetwas vorgefallen?"

"Kleine Auseinandersetzung über meinen Kleidungsgeschmack.", sagte Naomi knapp und tat mir leid.

"Scheiß auf sie.", sprach das Adrenalin aus meinem Mund. "Mich hasst sie auch."

"Ja aber bei dir-" Naomi beendete den Satz nicht sondern sah verlegen weg.

Ist das was anderes, huh?

Wir gingen stumm um das Schulgebäude herum. Naomi hatte nichts zu sagen, zum ersten Mal seit langem, war sie das interessanteste in ihrem Leben.

"Wenn man vom Teufel spricht.", sagte ich, als ich Caroline entdeckt hatte. Natürlich musste sie genau heute rauchend neben dem Eingang stehen. Fast, als würde sie auf uns warten.

"Machen wir keine große Sache draus.", sagte Naomi mit gesenkter Stimme und zog mich beiseite.

Normalerweise hätte ich ihr zugestimmt, aber heute fühlte ich mich so verdammt lebendig und als Caroline uns etwas nach rief stand ich schon vor ihr.

"Was hast du gesagt?"

Feel the painWo Geschichten leben. Entdecke jetzt