10. Ein Gerücht

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"Tom hat angerufen.", sagte meine Mutter trocken, als wir alle am Küchentisch saßen.

Mein Vater, der gerade dabei war, sich ein Stück Hähnchen in den Mund zu stopfen blickte verärgert auf. "Und?", fragte er mit vollem Mund.

"Er wird uns für ein paar Tage besuchen kommen.", sagte meine Mutter und starrte angestrengt dass karierte Tischtuch an.

Mein Vater hörte abrupt mit dem Kauen auf und warf ihr einen giftigen Blick zu. „Was will er hier? Ist er zu arm um seine Wohnung zu bezahlen?"

"Nur für ein paar Tage.", sagte meine Mutter vorsichtig.

"Nur für ein paar Tage? Ich habe diesen Bengel sechzehn Jahre durchgefüttert! Er hat lang' genug auf unsere Kosten gelebt!" Speicheltropfen flogen ihm aus dem Mund.

„Habe ich einen Versager erzogen?" Mein Vater stieß seinen Stuhl nach hinten und stapfte zum Kühlschrank. "Nichts ist aus ihm geworden. Ein fauler Taugenichts!" Er riss die Kühlschranktür auf und griff nach einem Bier. Ich wandte schnell meinen Blick ab und betrachtete angestrengt die Erbsen auf meinem Teller. „Ich wusste immer schon, dass nichts aus ihm wird!", schimpfte mein Vater und stapfte ins Wohnzimmer. "Ich bin nicht bereit noch mehr Geld für ihn auszugeben! Sag es ihm genau so und dann kann er gleich wieder verschwinden!"

Eine erdrückende Stille breitete sich in der Küche aus. Ich wagte nicht, meinen Kopf zu heben. Benommen stocherte ich in meinem Reis herum.

Mein Bruder kommt heim.

Das Wochenende verging, wie die meisten Tage in meinem Leben.

Ich durfte nicht hinaus und verbrachte den Samstag damit, die Fenster zu putzen und auf Zehenspitzen, den immer aufkommenden Streitigkeiten zwischen meinen Eltern auszuweichen. Als Kind hatte mir meine Mutter erklärt, mein Vater hätte Stimmungsschwankungen, manchmal hatte er und ganz doll lieb und manchmal wurde er wütend, wenn wir an einem Samstagmorgen laut die Treppe hinuntergingen. Aber in Wahrheit ertrug er uns nicht, zu keinem Zeitpunkt. Unsere Anwesenheit war genug, um seinen Tag zu ruinieren.

So verbrachte mein Vater das Wochenende betrunken vor dem Fernseher und schien sich doch Mühe zu geben, so wenig wie möglich aufzustehen. Ich hingegen bemühte mich, ihm so wenig wie möglich über den Weg zu laufen und er bedankte sich in dem er weitgehend so tat, als würde ich nicht existieren.

Die Schulstunden waren zäh wie Honig und vergingen unmöglich langsam. Kyle kam nicht zur Schule und der Vorfall im Skatepark schien unendlich lange her. Ein kleiner, surrealer Ausbruch aus dem Alltag, aber alles war schließlich zu meiner grotesken Normalität zurückgekehrt.

Meine Mathelehrerin zwang mich nicht, die Wiederholung nachzuholen. Ich glaube insgeheim hatte sie Mitleid mit mir, vielleicht war mir doch ins Gesicht geschrieben, wie scheiße alles lief.

Alles deutete auf einen ruhigen Märztag hin bis mich Naomi nach der letzten Stunde beiseite zog. Ich war gerade dabei mein Chemiebuch einzupacken als sie mich überfiel. "Hannah, wir müssen dringend reden.", sie stockte, "Vielleicht sollte ich dir das auch gar nicht sagen, aber du musst sofort mit mir aufs Mädchenklo kommen."

Für einen Moment sah ich sie fassungslos an, normalerweise sprachen wir nicht innerhalb der Schule, dafür war sie viel zu beliebt und ich viel zu sehr ich selber. Aber sie hatte eindeutig meinen Namen gesagt, also ließ ich mich zur Toilette zerren.

Mein Blick sprang ungeduldig von Naomis Spiegelbild zu meinem während wir darauf warteten, dass zwei Mädchen aus meiner Schulstufe ihre Hände fertig gewaschen hatten.

"Was ist los?", platzte es aus mir heraus, als dir Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte.

Statt einer Antwort zog Melanie mich zum Waschbecken, nahm meine Hand in ihre und sah mir tief in die Augen.

„Stimmen die Gerüchte?", fragte sie unruhig.

„Was?"

"Die Gerüchte."

Ich runzelte die Stirn.

„Du weißt es nicht? In der ganzen Schule wird herumerzählt, dass du Kyle geküsst hast."

"Was?" Mein Herz setzte zwei Schläge aus.

„Alle reden davon. Es heißt du hättest es vor Jenna getan."

Jenna? Ich sah zu Boden und versuchte meine Erinnerungen an Donnerstag zu sortieren.

„Ja oder nein, Hannah?"

"Nein.", sagte ich und sah Naomi in die Augen. "Ich wüsste ganz bestimmt, wenn ich ihn geküsst hätte."

"Ganz sicher?", hackte sie nach. "Da war sicher nichts?"

„Sicher."

"Gut. Oder auch nicht." Sie nahm einen tiefen Atemzug. „Jenna - diese bitch - tut seit Tagen nichts anderes als damit zu prahlen, dass sie dir den Arsch aufreißen wird sobald du wieder auftauchst."

"Mir?", fragte ich ungläubig.

„Ich kenne keine andere Hannah, die sich qualifizieren würde."

„Was?"

„Und Kyle soll auch dabei sein."

"Jenna will mich zusammenschlagen?" Ich drehte mich zum Spiegel und fuhr mir durchs Haar. Ich sah blass aus.

"Hat sie dich wirklich gesehen?", hackte Melanie nach.

„Was?"

"Hat Jenna dich gesehen, als du Kyle geküsst hast?"

Ich nahm einen tiefen Atemzug. "Ich- ich weiß es nicht. Nein-"

"Scheiße, Hannah. Du hast-„

„Nein!", unterbrach ich sie, „Er hat mich geküsst! Okay? Er- er hat- ich meine-„

„Okay, okay." Naomi verschränkte die Arme und schwieg.

Ich drängte mich an ihr vorbei und eilte in das Klassenzimmer zurück. Es war leer, bloß meine Tasche hing trostlos auf meinem Stuhl. Ich nahm sie mir und stellte mich ans Fenster. Fieberhaft suchte ich den Parkplatz nach einer Spur von Jenna ab. Natürlich wurde ich fündig, natürlich hatte Naomi keinen Spaß gemacht. Rauchend lehnte Jenna an ihrem schwarzen Auto und wartete auf mich - umgeben von ihrer ganzen Clique. Alleine hätte sie sich das nicht getraut. Alleine hätte ich mich erklären können.

"Was wirst du tun?", fragte Naomi, die sich neben mich gestellt hatte und selber betreten aus dem Fenster sah.

"Ich rede mit ihr."

"Mit Jenna?"

"Und wenn Kyle die Eier hat hier aufzutauchen, soll er sich erklären." Meine Hände zitterten. Er hatte verkackt und ich war nicht bereit, dafür bezahlen.

Feel the painWo Geschichten leben. Entdecke jetzt