1. Eine Porzellanscherbe

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Kein Tag - egal wie schlecht - glich jenen Tagen, an denen mein Vater wütend war.

"Dad, es tut mir leid. Bitte! Es tut mir leid!" Ich bückte mich und schob die Glasscherben mit meinen Händen zusammen. "Ich mach' es wieder weg! Es ist nichts passiert! Ich mach alles wieder weg!"

Das spitze Porzellan bohrte sich in meine Handflächen und hinterließ rote Striche, wo es sie berührte. Der Schmerz war da, aber er war wie ein funkelnder Stern am Nachthimmel: Unendlich weit weg.

Ein Vorhang schob sich vor mich. Die Tränen sammelten sich in meinen Augen und fielen in großen Tropfen von meinen blutenden Händen auf den kalten Steinboden.

Ich wurde an den Haaren gepackt und nach oben gezogen. Der Schrei, der mir entwich, ging sofort in ein Schluchzen über.

Ich hatte gehofft, mich weinen zu sehen, würde reichen. Mich einmal einschüchtern, anschreien und dann mit einer Dose Bier verschwinden, wie es mein Vater manchmal tat. Aber er war wütend, zum ersten Mal seit Wochen wirklich wütend.

Ab da war alles nur mehr ein Gewirr an Erinnerungen.

Mein Vater schlug mir ins Gesicht, ich kam ins Taumeln und viel Schulter voran gegen die Spüle.

Ich zwickte die Augen zusammen und schlug sie wieder auf. Die Farben der Welt waren ineinander geflossen. Ich nahm ein paar schwere Atemzüge, während weitere Tränen ihre glänzende Spur auf meinem Gesicht hinterließen.

Die kalten Fliesen fingen mich auf, als er mir in den Bauch schlug, sonst wäre ich, womöglich, einfach in die Unendlichkeit gefallen. Ich landete inmitten von Scherben.

"Wer soll das bezahlen? Du etwa?", schrie mein Vater, "Hör auf zu weinen! Steh auf!"

Ich konnte spüren, wie mein Vater meinen Magen, meine Blutgefäße, ja einfach alles in mir aufgerissen hatte.

Wenn ich kotze werde ich Blut kotzen. Der Gedanke lies mich erschaudern und war mit dem nächsten Wort meines Vaters verschwunden.

"Du gehst nicht bevor du alles weggeräumt hast!

Bevor du das Blut aufgewischt hast.

"Wenn ich nur eine Scherbe finde lass ich sie dich fressen!"

Ich hörte wie die Kühlschranktür aufging und wieder zufiel. Als mein Vater den Raum verließ, war es still geworden, das einzige Geräusch war der Fernseher aus dem Wohnzimmer und gelegentliches Klimpern von Bierflaschen.

Ich schloss die Tür meines Zimmers lautlos hinter mir ab. Ich hatte die Küche aufgeräumt und Gelegenheit gehabt, mich zu beruhigt. Jetzt wo die Tränen getrocknet waren, kam allmählich der brennende Schmerz angekrochen.

Ich lies mich auf den grauen Teppich meines Zimmers sinken. Die Vorhänge waren alle zugezogen, mein Rücken gegen die Tür. Ich durfte sie eigentlich nicht abschließen aber ich hatte seit Wochen wieder Grund Angst zu haben.

Ein absurder Gedanke kam mir: wenn mein Dad doch raufkommen würde und an der Tür rütteln würde, um festzustellen, dass sie verschlossen war, und schreien würde und gegen die Tür treten würde - sie langsam eintreten würde - dann würde ich einfach meine Geldbörse, meine Zigaretten und meine Jacke packen und aus dem Fenster springen. Zwei Meter Fall, wenn ich mich an den Armen herabließ, sogar noch weniger. Und sollte ich mir nicht den Knöchel dabei brechen, würde er mich nie wieder sehen.

Freiheit.

Bei dem Gedanken musste ich fast lächeln, weil es nichts als eine Illusion war.

Dad würde gegen die Tür schlagen, mich anschreien, ich würde weinen. Irgendwann würde er sich wie ein Stier gegen die Tür schmeißen und sie aufbrechen. Er würde mich an den Haaren packen, schlagen, vielleicht diesmal totschlagen und ich würde einfach tun was ich immer tat - nichts.

"Ich hasse dich.", sagte ich, weil niemand da war, um es zu hören.

Als ich in der Dusche stand weinte ich wieder, aber diesmal vor Schmerz. Das Wasser brannte, wo es meine Wunden berührte. Ein paar kleine, blutrote Rubine hatte ich aus meinen Händen ziehen müssen.

Ich hatte Glück, mein Vater hatte sich das große Schlafzimmer genommen und ich hatte dafür mein eigenes Badezimmer bekommen, das wahrscheinlich einmal ein begehbarer Kleiderschrank gewesen war.

In frischen Sachen saß ich auf den grauen Fließen des Badezimmers, die Tür zu meinem Zimmer war geschlossen und das undurchsichtige Badezimmerfenster gekippt. In meiner linken Hand hielt ich eine Zigarette, in der rechten einen schwarzen Stift. Das Feuerzeug lag auf dem Fensterbrett.

Die Zigarette würde ich gleich rauchen, nicht am Fenster, (da hätten mich meine Nachbarn sehen können) sondern im Bad und danach würde ich die ganze Nacht lang lüften.
Ich rauchte nicht, weil es sich gut anfühlte oder weil es mich glücklich machte, ich wollte nicht glücklich sein, ich wollte den Schmerz spüren. Ich rauchte, um den ganzen Dreck der Welt einzuatmen und daran zu ersticken. Langsam, qualvoll aber stetig.

Ich setzte den schwarzen Filzstift an der Zigarette an. In zwei Zeilen schrieb ich:

ICH HOFFE,
DU STIRBST DAD

Langsam und qualvoll, so wie ich.

Feel the painWo Geschichten leben. Entdecke jetzt