Kapitel 50 - Zurück in die Kerker

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Würde ich mich nicht wie betäubt fühlen, würde ich vermutlich förmlich spüren, wie mein Herz ein Trommelkonzert veranstaltete. In mir kam das quälende Gefühl der Unsicherheit auf. War ich mir bei dem sicher, was ich hier tat? War es richtig?
Ich blickte in Ariadnes Augen, doch diese wirkten weder eiskalt, noch abschätzend oder höhnisch. Sie wirkten ernst und entschlossen. Ariadne schien es für richtig zu halten. Sie grinste nicht einmal. Und irgendwie beruhigte mich das. Ariadne wusste genau was sie tat. Sie kannte die Konsequenzen, doch anders als ich war sie mit diesen Konsequenzen vertraut und hatte keine Probleme, wenn es sie von innen zerriss. Und ja. Das glaubte ich. Dass manche Taten sie von innen zerrissen. Ariadne mochte vielleicht gefühllos und kalt wirken, doch sie war es nicht. Sie war bloß gut darin, ihren wahren Emotionen zu unterdrücken. Und genau das hatte ich noch zu lernen. Ariadne hatte recht. Würden die Jäger nicht verschwinden, würden die Ghost Elementary niemals mit dem leisesten Gefühl von Sicherheit leben können. Jemand musste sich opfern um das zu ändern. Musste zulassen, zum Bösewicht zu werden, weil niemand anderes es konnte. Und dieser jemand war ich. Ariadne hatte mich nicht ohne Grund ausgewählt. Ich verstand den Gedanken dahinter. Mein Ruf war alles andere als gut. Jeder müsste bereits davon gehört haben. Ich würde niemals so etwas wie eine Heldin werden können. Deshalb hatte Ariadne sich dazu entschieden, dass sie mich dabei haben wollte. Weil ich es konnte und ich sowieso keine Weste der reinen Unschuld besaß. Diese Weste war bereits mit düsteren Flecken beschmutzt.

Das betäubende Gefühl verschwand und all meine Unsicherheiten verschwanden auf einen Schlag. Dennoch blieb ein schweres Gefühl in der Gegend meines Herzen. Es würde sich alles verändern. Und ich würde bereit sein.

Ariadne löste ihren Blick von mir und wir zogen unsere Hände zurück. Sie sah aus dem kleinen Fenster in eine unbekannte Ferne. "Du solltest lernen, Kontrolle über deine Emotionen zu bekommen, Mika.", sagte sie. Ihr Blick war abwesend, ihre Stimme leise. "Du bist zwar schon recht gut darin, zu verstecken was du denkst und fühlst, aber du musst auch lernen, sie zu unterdrücken." Ariadne machte eine kurze Pause. Nun sah sie mich wieder an. Ich wusste, was sie nun sagen würde. "Es ist dann einfacher. Glaub mir. Ich weiß wovon ich rede." Sie seufzte. "Wir sollten zu den anderen gehen. Ich kann meine Geschwister jetzt nicht ohne einen Schutz zurück lassen." Irgendwie war es merkwürdig. Der Satz klang so, als würde sie die Älteste von ihren Geschwistern sein, die, die die anderen beschützen musste. Aber was wusste ich schon? Ich wusste sechzehn Jahre nicht einmal, dass ich einen älteren Bruder hatte und ich hatte nach diesen sechzehn Jahren auch nicht sehr viel Zeit mit ihm verbracht. Vermutlich würde es auch nicht mehr dazu kommen. Es bedrückte mich, dass ich so dachte, doch so war es nun einmal. Und ich sollte an die positiven Dinge denken. Ich hatte Will kennengelernt, hatte erfahren, wer meine Familie war. Ich sollte mich nicht beschweren.

Ariadne wandte sich der Tür zu. Ich sah, wie sie sich merklich anspannte. Sie schloss für einen kurzen Moment ihre Augen, atmete tief ein und tief aus. Danach öffnete sie ihre Augen wieder, wirkte ruhiger und gefasster. Für sie war es schwer. Sie würde zu ihren Geschwistern gehen und ich verstand, weshalb es ihr alles andere als leicht fiel. Ich hatte Mitleid mit Ariadne. Und ich glaubte tatsächlich, dass sie trotz ihrer Taten und ihrer Vergangenheit keine schlechte Person war. Sie war nicht verdorben. Auch wenn ich ihr ansah, dass sie das von sich selbst so dachte. Egal wie gut sie darin sein mochte, ihre Gefühle zu unterdrücken, es schien einen Riss in der Wand zu geben, hinter die sie all das kehrte. Egal wie winzig dieser Riss sein mochte, er war da. Er war da und ließ sie fühlen. So wenig es auch sein mochte. Es war ein Anfang. Doch während sie nach unserem Vorhaben die Wand vermutlich einstürzen ließ, Stück für Stück, würde ich meine nur noch höher ziehen. Ein stilles Lächeln legte sich auf meine Lippen bei diesem eigentlich doch ziemlich traurigem Gedanken.
"Nun komm. Gehen wir.", sagte Ariadne und ging voran.
"Warte!", rief ich und Ariadne drehte sich fragend und mit hochgezogener Augenbraue zu mir um. Als ich dann aber wieder meine Gestalt änderte, schien es ihr wieder einzufallen und sie nickte mir kurz zu.

Die Gänge waren alle menschenleer. Nirgendwo war auch nur der Hauch einer Menschenseele zu sehen. Somit gelangten wir unbemerkt zurück in die unterirdischen Kerker. Stille. Nichts als Stille. Ariadne und ich warfen uns misstrauische Blicke zu. Nicht ein Ton war zu nehmen. Keine Schritte, kein Geflüster, kein noch so leises Schluchzen. Vollkommene Stille.
Tiefer in dem unterirdischen Labyrinth jedoch konnte ich Desdemona erkennen, die still mit Grace auf dem Boden saß. Desdemona schien nicht mehr zu wissen, wie sie Grace aufmuntern und trösten konnte, also hatte sie sich wohl dazu entschieden, dass es das Beste war, Grace erst einmal über all das nachdenken zu lassen. Ariadne neben mir widerstrebte es sichtlich, aus den Schatten zu weichen. Also unterdrückte ich ein Seufzer und schob Ariadne auf Grace zu. Diese hob nun ihren Kopf, weil sie die Bewegung in ihrem Augenwinkel sah. Grace und Ariadne starrten einander stumm an. Dann weiteten sich langsam Graces Augen. Ariadne senkte ihren Blick, schien es nicht ertragen zu können. Es überraschte mich. Natürlich wusste ich, dass Ariadne vorhin schon geweint hatte, doch nun hatte sie wieder so gefasst gewirkt.

"Ariadne ...", murmelte Grace und rappelte sich auf. Mit langsamen, kleinen Schritten ging sie auf ihre jüngere Schwester zu. Vorsichtig, um sie nicht wieder zu verscheuchen, so wie es bei Dylan gewesen war. Doch Ariadne würde nicht gehen. Das würde ich nicht zulassen. Sie musste sich endlich ihren Geschwistern stellen.

"Grace.", flüsterte Ariadne, ihre Augen glänzten. Auf Graces Lippen erschien ein sanftes Lächeln, ehe sie ihre Arme ausbreitete und sie um ihre Schwester schlang und sie schließlich fest an sich drückte. Etwas unbeholfen erwiderte Ariadne die Umarmung. Doch ich spürte, dass sie sich wohl fühlte. Dass sie sich insgeheim freute. Grace vergrub ihr Gesicht in dem silbernem Haar von Ariadne und ich schlich mich zu Desdemona, um die beiden nicht zu stören. Diese stieß mir in die Rippen und grinste mir zu. Ich grinste zurück.
Plötzlich kamen Liam und Imogen aus einem der Räume und blieb wie erstarrt stehen. Ihm schien die Kinnlade hinunter zu fallen. Entgeistert starrte er Ariadne an, schien es nicht glauben zu können, dass er Ariadne das tun sah, was sie gerade nun einmal tat.
"Idiot.", brummte Desdemona, wofür sie von mir einen Stoß in die Rippen erntete. Sollte sie es wagen noch lauter zu sprechen, würde sie den Moment zerstören.
Imogen starrte auf Ariadne und Grace, schien unentschlossen und verzweifelt. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, doch ehrlich gesagt hatte sie auch keine Wahl, denn schon wurde sie von meiner Macht zu ihren beiden Geschwistern gedrückt und ehe sie sich versah, hatte Grace Imogen mit einem Arm schon in dem Kreis aufgenommen. Nun fehlte bloß noch einer.
Bei dem Gedanken an Dylan verdüsterte sich meine Miene. Er hatte kein Recht so mit mir zu reden, wie er es getan hatte. Die düstere Seite in mir flüsterte leise danach, ihm eine Lektion zu erteilen, doch meine andere Seite schob sie wieder zurück in ihre Tiefen.

Plötzlich tauchte Dylan auf, sah als aller erstes mich und seine Miene verdüsterte sich schlagartig. Er öffnete seinen Mund, um etwas, wie ich schätzte, fieses zu sagen, doch dann erblickte er seine drei Schwestern. Drei und nicht zwei. Er erstarrte.

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