Kapitel 59 - Nachtluft

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Schweigend liefen wir nebeneinander her. Mir blieb nicht unbemerkt, dass Liam ein wenig Abstand von mir hielt. Aber ehrlich gesagt konnte ich ihn dabei gut verstehen. Wäre ich er, ich würde es nicht anders machen. Vermutlich wäre ich sogar nicht so tolerant wie er es war. Wahrscheinlich würde ich nur das Monster sehen, anstatt die Person dahinter. Dieser Gedanke gefiel mir nicht, da ich mir schließlich selbst wünschte, dass andere das was ich war tolerierten. Doch es war nun einmal die Wahrheit. Und die war nicht immer das, was man sich erhoffte.

Als wir den Keller hinter uns gelassen hatte, blieb ich stehen. Daraufhin tat Liam es mir gleich und drehte sich zu mir um. "Was ist?", wollte er wissen. Ich zuckte nur mit meinen Schultern. "Ich finde, du solltest alleine zu Desdemona gehen. Dann könnt ihr in Ruhe reden.", meinte ich. Liam nickte langsam. "Ja, das wäre gar nicht mal so schlecht.", murmelte er. Er warf mir noch einen kurzen, unsicheren Blick zu, ehe er sich abwandte und mit nun schnelleren Schritten fortbewegte. Ich lächelte leicht. Er und Desdemona passte auf irgendeine schräge Art gut zusammen. Nawin tat mir nun ein wenig leid. Ich wusste zwar nicht genau was es war, aber irgendetwas schien er für Desdemona übrig zu haben. Aber was genau es war, das konnte ich nun wirklich nicht sagen. Noch nicht. Irgendwann vielleicht.

Wie spät es wohl war? Die Sonne war schon untergegangen. Eigentlich wollte ich noch einmal mit Ariadne über unseren "Deal" reden. Ich war mir bei dieser Sache nämlich gar nicht mehr so sicher. Zwar hatte ich mir gewisse Dinge eingeredet, damit es mir bei dem Gedanken daran ein wenig besser ging, doch ehrlich gesagt war das nur blödes Gerede gewesen. Ich seufzte und blickte aus dem Fenster hinaus in die dunklen Schatten, die sich über die Landschaft zogen wie ein dichter Schleier. Zu was war ich überhaupt in der Lage? Ich konnte ja nicht einmal mich selbst retten. Wie sollte ich dann all die Ghost und Schatten Elementary vor den Jägern retten? Ich war noch nicht einmal mit mir selbst im Klaren. Und bereit meine Kräfte zu entfesseln war ich auch nicht. Denn überall gab es Schattenseiten. Die ich auch noch im Überfluss besaß. Was, wenn ich meine vampirische Seite frei ließ und mich nicht mehr unter Kontrolle haben würde?

Ich wandte meinen Blick von dem Fenster ab und schüttelte nur leicht meinen Kopf. Wie sollte das alles nur enden, wenn ich all meine Seiten entfesselte? Das war zu viel. Wie sollte ich mit allem gleichzeitig umgehen können? Es war mir zu viel. Mit der Vielfältigkeit meiner Fähigkeiten konnte man auch übertreiben. Hätte eine andere Seite von mir nicht auch gereicht? Elementary und Hexe? Das wäre sogar noch halbwegs in Ordnung gewesen. Aber zusätzlich noch Vampir? Und dann eine Ghost Elementary? Luft oder so hätte es auch getan. Das hier allerdings war zu viel macht für eine einzige Person. Und leider war diese Person ich. Wenn ich all meiner Macht nicht standhalten könnte ... Würde es mich dann vernichten?

Ich lehnte mich an die kühle Steinwand und wünschte mir, einfach nur normal zu sein. Meinetwegen sogar eine Elementary. Aber eine gewöhnliche. Nichts Außergewöhnliches. Ariadne erwartete viel von mir. Doch konnte sie sich auch nur annähernd vorstellen wie es mir dabei ging? Irgendwie bezweifelte ich das. Und deswegen wollte ich noch einmal mit ihr reden. Wegen meiner Zweifel und wegen meines Gewissens.
Der Stein hinter mir fühlte sich ein wenig rau an. Gedankenverloren strich ich mit meinem Finger jede Unebenheit nach.
Ariadne würde jetzt erst einmal mit ihren Geschwistern beschäftigt sein. Und ich wollte nicht einfach so da rein platzen. Ich würde sie irgendwann ansprechen, wenn ich sie einmal alleine antreffen sollte. Wenn ich Pech hatte, würde sie allerdings nicht mehr von der Seite ihrer Geschwister weichen, bis diese in Sicherheit waren. Und Ariadne würde höchstpersönlich für deren Sicherheit sorgen. Nur leider gehörte auch ich zu ihrem Plan. Konnte ich Ariadne überhaupt im Stich lassen? Sie zählte immerhin auf mich. 

Frustriert rieb ich meine Stirn. Ich brauchte Ruhe. Abstand. Irgendwo wo ich klar denken konnte. Wenigstens für ein paar Minuten. Noch einmal fiel mein Blick nach draußen. Ich presste meine Lippen fest aufeinander. Nein. Eine schlechte Idee. Dort wimmelte es nur von Jäger. Und ich hatte keine Ahnung wie viele von ihnen dort in der Dunkelheit lauerten. Doch ich wollte raus. Ich konnte nicht hier bleiben. Das Schloss schien mich einzuengen. Im Moment kam es mir vor wie eine Art Gefängnis in dem ich wartete, bis die Jäger angriffen. Ich hasste dieses Gefühl. Eine Gefangene zu sein. Also warf ich alle Bedenken über Bord und lief zügig los. In Richtung Eingangshalle. Meine Schritte hallten durch die menschenleeren Gänge. Es war beinahe unheimlich. Niemand mehr befand sich außerhalb der Zimmer. Das Schloss konnte so ziemlich unheimlich wirken. Die Fackeln an den Wänden machten es nicht besser. Ich kam mir vor als würde ich mich im Mittelalter befinden. Das Feuer warf tanzendes Lich an die Wände. Meine Augen huschten an die Decke. Tatsächlich. Hier gab es auch elektrisches Licht. Doch es wurde wohl nicht so oft angeschaltet. Aber weshalb wunderte es mich überhaupt? Lady Darkstone war schon recht speziell was ihren Geschmack anging. Ihr gefiel es wohl mittelalterlich. Kein Wunder, dass Theodor sich hinter seiner Spielkonsole verkroch.

Je näher ich der Empfangshalle kam, desto vorsichtiger wurde ich. Ich spähte um jede Ecke, sah mich um und erschrak bei jedem noch so kleinen Geräusch. Lady Darkstone würde es wohl nicht sonderlich gutheißen, wenn ich jetzt das Schloss verlassen würde, das sie als so sicher einstufte. Entschlossener als vorher schritt ich auf die Tür zu, die mich wie magisch anzog. Alles in mir schrie nach der frischen Nachtluft und der schützenden Dunkelheit. Mit einem Ruck flog die Tür auf. Ohne, dass ich auch nur irgendeinen Finger gekrümmt hatte. Kühler Wind wehte mir entgegen und ich bemerkte, wie eine Spannung von mir abfiel, von der ich nicht wusste, dass es sie gegeben hatte. Hinter mir fiel die Tür ins Schloss. Ich entfernte mich von dem alten Gemäuer und suchte meine Ruhe in dem Wald. Ja, vielleicht war es eine vollkommen dumme Idee. Doch das war im Moment total egal. Ich seufzte erleichtert auf, schloss für einen Augenblick meine Augen und atmete tief ein und aus. Meine Lungen füllten sich mit der kalten Nachtluft. Es würde nicht mehr allzu lang dauern und der Winter würde über uns einbrechen. Für Oktober war es bereits recht kühl und angenehm. Blätter rauschten sachte im Wind und es roch nach Moos und Baumrinde. Eine Eule schrie.

Meine Füße liefen scheinbar von ganz alleine immer tiefer in den Wald. Ich hatte kein Ziel. Wollte einfach nur einen gewissen Abstand zwischen das Schloss und mich bringen. An irgendeinen neutralen Ort, wo noch nichts geschehen war, an das ich denken musste. Irgendwann ließ ich mich auf einen kleinen Felsen sinken und lehnte mich an den rauen Baumstamm, der sich direkt dahinter befand. Ich sog ruhig die frische Waldluft ein und fühlte mich zum ersten mal seit langem entspannt und vollkommen Sorgenfrei. Natürlich war das bloß der trügerische Schein, doch ich begrüßte es. Jedenfalls bis ich die Präsenz einer weiteren Person wahrnahm.

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