Kapitel 66.2 - Das Verhör

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Wir hatten die anderen bald eingeholt. Schweigend lief ich neben Will her. Es war mir mehr als unangenehm. Die ganze Zeit über spürte ich Damons Blick in meinem Rücken. Doch das war nicht das einzige, das mich beschäftigte. Wie sollte ich die Gestalt von Lune annehmen, ohne dass Damon mitbekam, dass ich das konnte? Hinzu kam, dass ich spätestens im Internat wieder aussehen musste wie Lune. Immerhin konnte ich nicht wissen, ob mich ein Schüler verraten würde. Doch auch wenn ich noch rechtzeitig meine Gestalt änderte, wie sollte ich das erklären, wenn Damon plötzlich von Lune, statt von Mika zum Internat gebracht wurde? Und wo sollte Mika auch auf einmal hingehen?

"Du bist so still.", bemerkte Will mit einem Seitenblick zu mir. Er schielte kurz zu Damon, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder mir widmete. "Achso. Stimmt. Ich hatte es vergessen. Beinahe.", sagte Will und sah wieder gerade aus. Wie bitte?! Das hatte er bestimmt nicht vergessen! Aus irgendeinem Grund hatte er extra zugelassen, dass ich Damon übernehmen musste! Wütend sah ich zu Will. Meine verschieden farbigen Augen funkelten zornig. Entschuldigend zuckte mein Bruder mit seinen Schultern als er es bemerkte. "Mach dir nichts draus.", war seine einzige Aussage. Wie charmant.

Verbissen wandte ich meinen Blick nach vorne. Verbot mir nach hinten oder zu Will zu sehen. "Ach komm schon, Mika!", versuchte Will es nun entschuldigend.
"Sei still.", zischte ich ihm zu. Ich hatte wirklich keine Lust jetzt mit ihm zu diskutieren. Will bemerkte wohl, dass es keinen Sinn machte und gab auf, bevor er überhaupt richtig angefangen hatte.
"Alles gut, da hinten?", rief Desdemona uns zu. Sie hatte sich umgedreht und musterte uns prüfend. Bei meinem wütenden Gesicht stockte sie, schaute an mir vorbei und erblickte Damon. Es schien bei ihr 'klick' zu machen. Jetzt selbst wütend, sah sie zu Will. Ihre Augen schienen ihn vergiften zu wollen. "Will, geht's dir noch gut?!", schrie sie zu ihm hinüber. "Du weißt doch wohl am besten, dass das die schlechteste Idee war, auf die du hättest kommen können! Und wozu?" Kopfschüttelnd drehte sie sich wieder nach vorne. Mehr hatte sie wohl nicht zu sagen.

Mittlerweile vollkommen schweigend kamen wir am Schloss an. Cassandra Darkstone eilte genau in diesem Moment heraus, als wir eintreten wollten. So entschlossen hatte ich sie noch nie gesehen. Kreischend schoss ihr Rabe in Richtung Wald. Lady Darkstone hatte auf einmal etwas Gefährliches an sich. Als würde niemand sie aufhalten können.
Ruckartig blieb sie stehen, als sie uns erblickte. Obwohl es kaum möglich war, wurde ihre Miene noch düsterer. "DESDEMONA MACKENZIE!", schrie Lady Darkstone und jeder von uns zuckte zusammen. Außer Ariadne. Die wirkte so gefasst wie sonst auch. Lady Darkstone schoss auf ihre Nichte zu, packte sie fest an beiden Schultern, sah ihr intensiv in die Augen und schüttelte sie.
"WAS HAST DU DIR DABEI GEDACHT?!" Auch wenn Desdemona es wohl niemals zugeben würde; ihre Tante sorgte sich um sie. Desdemona würde das wohl auf Schuldgefühle schieben. Doch bei Lady Darkstone war es weit mehr als bloß Schuldgefühle, die sie mit Desdemona verband. Desdemona bedeutete ihr etwas. Lady Darkstones Finger gruben sich fester in Desdemonas Schultern. Diese sah sie gleichgültig an. Wartete, bis ihre Tante irgendwann fertig sein würde. "WEIßT DU EIGENTLICH WAS HÄTTE PASSIEREN KÖNNEN?!" In ihren Augen stand die Sorge und noch etwas anderes. Angst. Angst um Desdemona. Ihre Tante liebte sie. Außerdem war Desdemona die einzige Familie, die Cassandra Darkstone noch geblieben war.

 Lady Darkstone atmete tief ein und aus. Schloss für einen Moment die Augen. Versuchte sich zu beruhigen. "Was denkst du dir bloß?", flüsterte die Direktorin nun ganz leise. Und wieder: "Was denkst du dir bloß?" Kraftlos lagen Lady Darkstones Hände auf Desdemonas Schultern, die stur an ihrer Tante vorbei sah.
"Sieh mich an.", befahl Lady Darkstone. Ihre Stimme war dieses mal ein wenig kräftiger. "Ich sagte, sieh mich an." Widerstrebend wandte Desdemona ihrer Tante ihr Gesicht zu. "Reden wir. Nur du und ich." Sie nahm Desdemonas Handgelenk und zog sie ins Schloss. Uns warf sie auch noch einen Blick zu. Bei mir blieb er länger hängen. "Ich habe gedacht, du würdest mehr auf dein Leben Acht geben, Mika." Damit verschwanden Desdemona und sie.

Still standen wir vor der Tür. Niemand wagte es zu sprechen, für den Fall, dass Lady Darkstone noch in der Nähe war.

Es war Will, der sich als Erster wieder wagte sich zu bewegen. Er stieß die Tür auf und ging hinein. "Kommt.", sagte er knapp und ich folgte ihm. Und mit mir die beiden Jäger. Nun setzten sich auch die anderen langsam wieder in Bewegung.
Plötzlich tauchte Liam neben mir auf. "Glaubst du, Desdemona wird es Lady Darkstone erklären?", fragte er vorsichtig. "Oder schreien sie sich beide eher gegenseitig an?"
Ich seufzte. "Ich weiß es nicht.", sagte ich ehrlich. "Ich denke, beide müssen sich erst einmal komplett aussprechen, bevor da irgendetwas Vernünftiges zustande kommt. Desdemona hält nicht viel von ihrer Tante." Liam nickte und schaute in die Richtung, in die die beiden vermutlich verschwunden waren. "Hm.", machte er. Für einen Moment sah Nawin so aus, als wollte er zu dem Thema noch etwas hinzufügen, doch dann entschied er sich, es doch sein zu lassen. Vermutlich war das die bessere Entscheidung. Sonst hätte er wahrscheinlich nur mit Liam gestritten.

Unruhig scannten meine Augen die Umgebung ab. Überraschender Weise war kein Schüler auf den Fluren. Ob Lady Darkstone ihnen verboten hatte, vor die Tür zu gehen? Aber ich sollte es am besten nicht hinterfragen und mich über diesen Umstand freuen. Wenn wir Glück hatten, konnten wir Damon und die anderen Jäger so unbemerkt in eine dieser Zellen bringen. So würde er nicht sehen wie ich meine Gestalt änderte und die anderen Schüler würden niemals erfahren, dass ich Lune war. Oder Lune ich. Wie auch immer.

Zügig erreichten wir die Kerker. "Wo lang?", wollte ich wissen und mit schnellen Schritten ging Ariadne voraus. "Folgt mir.", sagte sie. Sie schien sich gut auszukennen. Unsere Schritte hallten durch die leeren, kalten Kellergänge. Einzelne Fackeln warfen tanzendes Licht an die Wände.

Wir bogen einige male ab, doch ich bekam nichts davon mit. War in Gedanken ganz woanders. Ich dachte an Hanne und an meine leibliche Familie. Ich vermisste sie.

Ich bekam mit, wie wir einige Stufen hinab gingen. Es wurde kälter. Will fröstelte. Dabei war er nicht der Einzige. Alle außer Ariadne und mir froren. Na ja. Wahrscheinlich fror Damon auch nicht. Und Theodor? Das wusste ich nicht. Jedenfalls sah ich ihm nichts an.
Der Wind pfiff durch den immer dunkler werdenden Kerker. Je weiter wir nach unten gingen, desto älter und unheimlich sah das ganze aus.

"Wir sind gleich da.", informierte uns Ariadne und bog noch einmal ab, ehe sie vor einer sehr stabil aussehenden Tür hielt, deren Material ich nicht bestimmen konnte.

Skeptisch betrachtete Nawin die Tür. "Bist du dir wirklich sicher, dass das da ausbruchsicher ist? Es sieht nicht einmal stabil genug aus für einen gewöhnlichen Menschen.", gab er zu Bedenken. Daraufhin verdrehte Ariadne bloß ihre Augen. "Wäre ich mir nicht sicher, würde ich nicht zulassen, dass sie hier rein kommen.", sagte sie. "Und ich bin mir mehr als sicher."
"Wenn du meinst.", lenkte Nawin zögerlich ein und betrachtete misstrauisch die Zelle.

Will und ich ließen die Jäger hinein schweben. "Stopp!", sagte Ariadne auf einmal. "Nicht Damon. Der bekommt eine Einzelzelle!" Achselzuckend bedeutete Will mir, Damon in die gegenüber liegende Zelle zu bringen. Ariadne schloss die Zelltür, hinter der sich die drei Jäger befanden, die Will und ich aus ihrer Starre erlösten. Wütende Schreie und Gepolter ertönten. Wir versuchten es zu ignorieren.

Nachdem Damon in seiner eigenen Zelle war, da Ariadne mich an. "Ich möchte, dass du jetzt gleich als Lune da rein gehst und ihn verhörst, okay?", flüsterte sie mir zu und wartete meine Antwort ab.
"Wie bitte?!", rief Will aufgebracht. "Nein! Ich lasse sie nicht zu dem da rein! Wieso kann das nicht jemand anderes machen?" Beschwichtigend hob Ariadne ihre Hände.
"Es kann niemand anderes machen, als Mika.", sagte Ariadne trocken. "Er wird niemanden anderen als ihr etwas erzählen." Ein leichtes wissendes Lächeln erschien auf ihren Lippen. Ich wusste nicht was ich unheimlicher fand. Diesen Kerker oder ihr Lächeln.
"Aber wenn sie als Lune da rein geht, weiß er doch nicht, dass sie Mika ist!", argumentierte mein Bruder. Wütend sah er Ariadne an.
"Mika kennt Damon. Damon kennt Mika.", fuhr Ariadne fort. "Auch wenn er sie nicht als Mika sieht, wird sie wissen, wie sie mit ihm umzugehen hat." Für Ariadne war die Diskussion zu Ende. Abwartend sah sie zu mir.

Widerwillig änderte sich meine Gestalt. Ariadne sah zufrieden aus. Zögerlich ging ich auf die Tür zu, die Ariadne für mich öffnete. Es war ein kleiner Kampf überhaupt erst einzutreten. Doch letzten Endes fand ich mich in der Zelle wieder. Die Tür hinter mir wurde geschlossen. Nun stand ich Auge in Auge mit Damon.

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