Am Morgen war ich als erste wach. Schnell machte ich mich fertig, zog mich an und wollte schon aus der Tür gehen, als Desdemona aufwachte. Verschlafen setzte sie sich auf und sah mich an. "Warte.", sagte sie.
Ich wusste nicht, weshalb ich wartete, oder überhaupt noch darauf achtete, was Desdemona sagte. Nach gestern Abend wäre es berechtigt gewesen, ihr einfach aus dem Weg zu gehen. Wie allen anderen auch.
"Es tut mir leid.", wiederholte sie ihre Worte von gestern. Das war es dann auch. Mehr kam nicht. Wortlos setzte ich meinen Weg fort und zog die Tür hinter mir zu.Mittlerweile blieb uns nur noch ein Tag. Dann würde alles vorbei sein. Wie sehr wünschte ich mir jetzt, mit jemandem zu reden. Mir irgendwem, der mich wenigstens halbwegs verstand und nicht verurteilte. Aber es gab niemanden.
Und der Einzige, der vielleicht noch eine Option gewesen wäre, war fort. Zwar wusste ich nicht genau, ob Damon tatsächlich gegangen oder zurück in seine Zelle gesteckt worden war, aber es war naheliegend, dass er nach meinem kleinen Auftritt gestern verschwunden war. Immerhin waren alle ziemlich durcheinander und mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.Der Essenssaal war schnell erreicht. Die vielen Schüler des Internats schenkten mir kaum Beachtung. Sie alle hatten andere Gedanken im Kopf. Schließlich nahte der Angriff der Jäger. Jeder von ihnen half bei den Vorbereitungen oder verbrachte noch einmal Zeit mit seinen Freunden und seiner Familie. Viele Eltern oder Geschwister tummelten sich in den Gängen des Internats. Teilweise sogar einige Großeltern.
Im Speisesaal war so ziemlich jeder Platz besetzt. Nur am Tisch, der am weitesten von allen anderen entfernt war, waren noch einige Plätze frei. An diesen Tisch wollte ich mich setzen. Ich war auch schon auf dem Weg dorthin, als auf einmal jemand laut rief.
"Du da!" Es war eine noch relativ schwache Stimme. Jedoch klang sie bereits kräftiger, als sie es gestern gewesen war. Ohne überhaupt nachzudenken, drehte ich meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Einige Tische weiter, in der Nähe des Frühstücksbuffet stand ein strahlender Saimon. Hinter ihm stand Nawin, der mich erschrocken ansah. Als Saimon schließlich begann auf zu mir zu rennen, streckte Nawin seine Hand nach seinem kleinen Bruder aus, um ihn davon abzuhalten. Doch Saimon war schneller.
"Saimon!", rief Nawin seinem Bruder leicht Verzweifelt hinterher. "Komm zurück!" Saimon dachte gar nicht daran, auf Nawin zu hören. Überrumpelt starrte ich den überraschend kleinen Jungen an, der plötzlich seine Arme um mich schlang und mich fest drückte. "Danke.", flüsterte er. "Danke, dass du mich zurückgeholt hast!"
Nawin war stehen geblieben und hielt die Luft an. Langsam legte ich nun meine Arme um Saimon. Er war wirklich unfassbar dürr.
Irgendwann löste sich Saimon wieder von mir und sah mich mit einem breiten Lächeln an. "Danke.", wiederholte er glücklich, drehte sich dann wieder zu seinem Bruder um und ging zu ihm. Nawin sagte kurz etwas zu Saimon, doch Saimon schüttelte seinen Kopf und erwiderte etwas. Nawins Blick huschte kurz zu mir. Er schien innerlich mit sich zu ringen. Doch dann klopfte er seinem Bruder einmal kurz auf die Schulter und ging auf mich zu. Skeptisch beobachtete ich Nawin.
Vor mir blieb er verlegen stehen und rieb sich seinen Nacken. "Mika.", sagte er und wusste nicht, was er genau sagen wollte. "Danke.", meinte er schließlich. "Danke, dass mein Bruder wieder er selbst ist." Ich nickte nur. Ich hatte es nicht nur für ihn getan. Hauptsächlich für Saimon. Und weil er mir total leid tat. "Na ja.", fuhr Nawin fort. "Und es tut mir leid, wie ich gestern zu dir gewesen bin." Mehr schien ihm nicht einzufallen, also ging er zurück zu seinem jüngeren Bruder, der ihn mit zwei Frühstückstellern erwartete.Mit einer kurzen Handbewegung, ließ ich einen Teller, der sich langsam mit Essen füllte und ein Glas Wasser auf meinen Tisch zu schweben.
"Guten Morgen.", ertönte plötzlich eine bekannte Stimme hinter mir. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer da stand. Er ließ sich neben mir auf den freien Stuhl fallen. Sein Frühstück legte er vor sich auf dem Tisch ab.
"Ich weiß, dass du mich vermutlich gerade nicht sehen willst.", meinte er. "Aber ich finde, wir sollten uns aussprechen."
Seufzend drehte ich mich ihm zu. "Ich habe gestern alles gesagt, Will."
Will nickte. "Das hast du.", sagte er. "Aber ich nicht." Er nahm sein Croissant und biss hinein. Dabei sah er mich die ganze Zeit an.
"Na gut.", sagte ich und lehnte mich auffordernd zurück. Will legte sein Croissant wieder ab.
"Aber zuerst habe ich eine Frage.", meinte er. "Weshalb hast du Damon frei gelassen?"
Ich lachte tonlos auf. "Ist das dein Ernst? Das ist es, was du wissen willst?" Will nickte. Ich seufzte. "Dann habe ich eine Frage an dich. Welchen Unterschied macht es, ob Damon in seiner Zelle bleibt, oder frei herum läuft?"
Mein Bruder setzte an, etwas darauf zu antworten, doch ich hob meine Hand als Zeichen, dass er schweigen sollte. Das tat er auch.
"Ich gehe mal davon aus, dass du gestern über alles aufgeklärt worden bist." Will nickte. Also fuhr ich fort. "Es wird morgen nichts ändern, ob Damon frei ist oder nicht. Entweder werden die Jäger und vernichten, oder wir tun es selbst. Entweder wir werden sterben, oder für immer gejagt werden. Bis wir schließlich alle ausgelöscht sein werden." Will wollte etwas erwidern, doch ich ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. "Egal wie es morgen ausgehen sollte.", sagte ich. "Ich habe nicht vor zu sterben. Und lieber lebe ich für immer im Schatten, als alles aufzugeben. Auch wenn das heißt, dass ich mein Leben lang davon laufen muss."
Will schwieg. Er ließ sich meine Worte im Kopf durchgehen. "Willst du wirklich dein Leben lang weg laufen?", fragte er mich und ich schüttelte meinen Kopf.
"Natürlich nicht.", sagte ich. "Aber anders als ihr alle habe ich noch eine weitere Option. Wie ich vorhin schon sagte. Ich kann auch für immer im Schatten leben, denn ich kann mich besser verstecken und anpassen als ihr."
Will konnte ein Seufzen nicht unterdrücken. Allerdings hatte er zu meinen Worten nichts zu sagen. "Ich hoffe, du weißt, dass ich dich gern habe und ich dich unter keinen Umständen verlieren möchte, Mika.", sagte er stattdessen. "Du bist meine kleine Schwester. Auch wenn ich mich ab und zu nicht so verhalte, als sei ich dein Bruder. Und das mit gestern tut mir leid. Kannst du meine Reaktion denn wenigstens verstehen?" Abwartend sah er mich an. Seine Augen schimmerten hoffnungsvoll.
Ich schwieg. Ob es mir gefiel oder nicht, ich konnte Will verstehen. Nach all dem was er gestern erfahren hatte. Nach all dem was er wusste. Und ich hatte es auch noch herauf provoziert. Langsam nickte ich. Erleichtert stieß Will die Luft aus, die er angehalten hatte.
"Ist zwischen uns wieder alles gut?", fragte er. Erneut nickte ich. Was brachte es uns, jetzt noch zu streiten? Uns blieb vermutlich nur noch dieser Tag.
Will zog mich in seine Arme. "Aber du musst zugeben, dass du ganz schön unheimlich sein kannst!", flüsterte er leise lachend in mein schwarzes Haar.
Ich musste leicht lächeln. "Kann schon sein."Auf einmal ließ Will von mir ab. Breit lächelnd sah er mich an. "Rate mal, wer noch alles hier ist.", sagte er. "Schließlich konnte ich es dir gestern nicht mehr sagen." Verwirrt sah ich ihn an.
"Wovon sprichst du?", wollte ich wissen. "Wer ist da?"
Will grinste. "Dreh dich mal um."
Irritiert drehte ich mich um und erblickte die Gesichter meiner Eltern und Großeltern. Vor Überraschung klappte mir der Mund auf. Was taten sie alle hier? Ich hatte nicht gedacht, dass sie tatsächlich kommen würden, als vorgeschlagen wurde, dass wir die Familien als Verstärkung dazu holen könnten.
"Hallo, Mika.", grüßte mich meine Mutter lächelnd. Sie zog mich in eine feste Umarmung.
"Hallo, Mum.", grüßte ich zurück. Der Reihe nach wurde ich umarmt. Obwohl ich mich freute, sie alle noch einmal wiederzusehen, gefiel es mir ganz und gar nicht, dass sie zum Kämpfen hier waren. Was, wenn ich einen von ihnen verlor? Ich hatte sie doch gerade erst gefunden.
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Obscura
FantasiFünf Elemente. Eine Schule. So heißt es zumindest. Was kaum einer weiß: Auf dieser Welt gibt es so viel mehr. Und es hängt mit der Vergangenheit der fünf Elemente zusammen. Mika lebt bei ihrer Mutter und führt ein wohlbehütetes und gewöhnliches Leb...