Kapitel 17

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Meine geliebte Tochter,

Ich bin untröstlich, dass ich nicht zu deiner Hochzeit erscheinen kann! Mir ist bewusst, wie viel es dir bedeutet hätte. Aber du weißt ja, wie viele Angelegenheiten ich momentan zu klären habe. Noch dazu sind neue Komplikationen aufgetreten, mit denen ich dich aber nicht belasten möchte. Immerhin ist heute dein großer Tag! Ich weiß zwar, dass du dieser Vermählung nur widerwillig zugestimmt hast - ebenso wie ich! - aber der Prinz erscheint mir, so ungern ich es zugebe, wie ein vernünftiger, wenn auch etwas kühler, junger Mann. Wer weiß, vielleicht finden eure Herzen irgendwann zusammen und eure Seelen verbinden sich. So wie bei mir und deiner Mutter...

Ich wünsche dir nur das Beste und hoffe inständig, dass du glücklich wirst.

Mögen all deine Wünsche in Erfüllung gehen!

Du bist mein Licht, mein Stern. Nur du erhellst meine trübe, alte Seele in dieser dunklen Nacht von einem Leben.

Ich sehne den Tag herbei, an dem ich dich, meine geliebte Tochter, wieder in die Arme schließen kann. Möge dieser Tag bald kommen!

In Liebe,

Dein Vater

P.S Und sollte er dir je etwas antun, zögere nicht mir Bescheid zu geben! Ich werde dich beschützen! Ob du nun in einem fremden Land lebst und bald die Gemahlin eines anderen Herrschers wirst - ich werde niemals zögern, dich zu befreien!

Ich las den Brief, den Anjuli mir gegeben hatte, noch einmal durch, bevor ich ihn langsam sinken ließ. Mit dem Handrücken wischte ich mir eine einzelne Träne von der Wange, die sich ungewollt aus meinem Augen geschlichen hatte. Glücklicherweise waren die Hennabemalungen schon lange trocken, sonst hätte ich dieses Kunstwerk womöglich verschmiert.

Anjuli und die anderen hatten mir erzählt, dass Shanias Vater sie über alles liebte, aber dass diese Liebe so stark war, hatte ich nicht erwartet und nicht glauben können. Ich wusste nicht um die Verbindung zwischen einem Vater und seiner Tochter. Ich hatte nie erfahren, was es hieß eine Familie zu haben oder wie sich die tiefe Verbundenheit zwischen einem Vater und seiner Tochter anfühlte. So etwas war mir völlig fremd. Doch nun bekam ich eine Ahnung davon. Die Gefühle, die der Herrscher für seine Tochter empfand, spürte man zwischen jeder Zeile und jedem Wort.

Er liebte sie über alles, doch jetzt war sie tot.

Ich konnte mir nur ausmalen, wie er reagieren würde wenn er erführe, was mit seiner Tochter geschehen war. Sie war von ihren eigenen Leuten abgehauen, weil sie es nicht ertragen konnte jemanden zu heiraten, den sie nicht liebte und fand ihren Tod schließlich in einem staubigen Loch. Aufgespießt von einem Speer, wie die Köpfe von Verbrechern auf Lanzen.

Und ich hatte es zugelassen, dass sie starb. Vielleicht hätte ich sie noch retten können, auch wenn ihre Überlebenschancen wirklich gering gewesen waren. Immerhin hatte der Speer nicht ihr Herz und ihre Lungen durchbohrt.

Es war merkwürdig, plötzlich hatte ich ein schlechtes Gewissen. So etwas empfand ich äußerst selten.

Selbstsüchtig hatte ich ihre Identität angenommen und vorgegeben, ich hätte es nur getan, um meine Schulden bei Ragip zu begleichen und den armen Menschen der Stadt zu helfen.

Doch tief in mir drin gab es noch einen anderen Grund, der mich mehr als alles andere beschämte. Nur einmal in meinem Leben wollte ich am eigenen Leib erfahren, was es hieß Geld und Macht im Überfluss zu haben. Nur einmal wollte ich nicht jeden Tag darum bangen, genügend zu Essen zu finden, um zu überleben. Nur einmal wollte ich schöne Kleider tragen und mich wie eine Frau fühlen.

Atlas - Die Geschichte einer Diebin, die Prinzessin wurde *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt