Kapitel 24

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Das Armenviertel war riesig. Die Chance hier jemandem über den Weg zu laufen, den man treffen wollte, war gleich null. Doch glücklicherweise wusste ich ja, wo sich Jalon meistens aufhielt. Es gab nicht viele Orte, die infrage kamen. Genauer gesagt nur drei. 

Einen hatte ich bereits abgeklappert, doch da war er nicht aufzufinden. Also wanderte ich weiter. Die nächsten beiden Möglichkeiten waren zum Glück nicht mehr ganz so weit weg. 

Als nächstes ging ich zu unserem kleinen, gemeinsamen Treffpunkt, den wir vor den anderen Gruppenmitgliedern sorgsam geheim hielten. Nicht etwa, weil es ein besonders hübscher oder strategisch wertvoller Ort war. Nein, genauer gesagt war er sogar ziemlich heruntergekommen und so weit vom Stadtkern entfernt, wie es nur ging. Doch das barg viele Vorteile. Der schmale Schacht war so gut versteckt, dass man ihn kaum zu finden vermochte. Nur wer von ihm wusste, erkannte, dass hinter dem kniehohen Erdhaufen, unter dem trockenen Gestrüpp, ein scheinbar willkürliches Loch der Eingang zu einem längst vergessenen Schacht war. 

Jalon und ich hatten ihn eher zufällig gefunden. Es war der Tag gewesen, an dem ich Jalon das erste Mal getroffen hatte. Nicht weit von ihm entfernt hatte er, nichts als ein Haufen Haut und Knochen, in einer dreckigen, dunklen Gosse gelungert. Ich hätte ihn fast nicht bemerkt, wie er dort im Dunklen zusammengekauert gesessen hatte, wären da nicht die zwei Straßenburschen gewesen, die ihn lautstark bedrohten. Wie Jalon mir später erzählt hatte, hatte er zwei abgenagte Hähnchenknochen vom Boden aufgelesen, die seine beiden Peiniger kurz vorher weggeschmissen hatten, um wenigstens noch die letzten zähen Sehnenstränge und den Knorpel zu essen. Obwohl sie sie gar nicht mehr hatten haben wollen, hatten sie plötzlich ein Problem damit gehabt, dass Jalon sie bekam und bestanden darauf, sie zurück zu bekommen. Jalon - so ängstlich wie er nunmal war - war panisch weggerannt, doch seine Verfolger hatten ihn schnell eingeholt und in einer Sackgasse bedrängt. Dies war die Stelle, wo ich darauf aufmerksam geworden und eingeschritten war. Innerhalb weniger Augenblicke hatte ich die streitsüchtigen Raufbolde außer Gefecht gesetzt, sodass sie vor Schmerzen gekrümmt auf dem Boden lagen. Das war zu erwarten gewesen. Was ich jedoch nicht erwartet hatte war, dass Jalon in Panik ausbrach und sich aus dem Staub machte. 

Natürlich war ich ihm gefolgt, um ihm zu erklären, dass ich ihm bloß hatte helfen wollen. Als ich ihn fast erreicht hatte und er nur noch mit dem Rücken zur Stadtmauer vor mir zurückgewichen war, war er plötzlich hinab ins Erdreich gefallen. Und so hatten wir den Schacht entdeckt. Unser kleines Geheimversteck.

Nachdem ich zu ihm hinabgestiegen war und seinen verletzten Fuß versorgt hatte, hatte ich ihm klargemacht, dass ich ihm bloß hatte helfen wollen. Mehrere Tage war Jalon dort unten geblieben, während er gewartet hatte, bis sein Fuß verheilte. Jeden Tag hatte ich ihm damals Essen und Trinken gebracht. Wir freundeten uns an und als er schließlich gesund war, hatte ich ihm einen Platz in unserer Bande eingehandelt. 

Seitdem kamen wir immer hierher zurück, wenn wir mal wieder die Schnauze voll von Ragip und den anderen hatten. 






Ich schob ein wenig von dem verdorrten Gesträuch beiseite und kletterte die schmale Holzleiter hinab. Die letzten paar Sprossen übersprang ich und landete mit einem dumpfen Aufprall, der Staub und Dreck aufwirbelte. 

Ich vermutete ja, dass dieser Schacht zu der Zeit gebaut worden war, als die Stadt von der schwarzen Pest heimgesucht wurde. Zu der Zeit war ich noch nicht geboren, aber ich wusste aus Erzählungen, dass damals wohl die komplette Stadt abgeriegelt worden war, indem alle Tore geschlossen wurden. Dies war mit der Absicht geschehen, dass die tödliche Seuche sich nicht auf umliegende Städte oder gar übers ganze Land ausbreitete. Nur die Reichen und Mächtigen, die die Wachen mit Geld bestechen konnten, hatten einen Weg aus der Hauptstadt gefunden. Der Rest war entweder qualvoll gestorben oder hatte gerade noch so überlebt. Viele, die noch nicht infiziert gewesen waren, hatten mit allen Mitteln versucht, aus der verseuchten Stadt zu flüchten. Manche, indem sie Tunnel gruben, die unter der Stadtmauer hindurchführten. 

Atlas - Die Geschichte einer Diebin, die Prinzessin wurde *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt