Kapitel 1 Teil 1: Grimmauldplace Nummer zwölf
Harry war allein. Nach dem Kampf um Hogwarts und Voldemorts Tod hatte er sich in die Gryffindor-Räume zurückgezogen. Hermine und Ron waren nach ihrem Besuch des Portrait-Dumbledores wieder in die große Halle zurückgekehrt und wollten Harry die Ruhe gönnen. Wahrscheinlich konnten sie die Geschichte über Harrys Tod und Auferstehung nicht ganz glauben, sodass sie sich leicht davon überzeugen hatten lassen, dass Harry nun müde war und schlafen gehen wollte. Selbst Hermine hatte seine Gründe nicht hinterfragt oder eine Diskussion über die Ereignisse angefangen. Müde schlurfte Harry die Stufen zum Turm hoch. Erfreulicherweise standen im Jungenschlafsaal immer noch die Betten von Harry und Ron, trotz ihrer Abwesenheit während dieses Schuljahres. Ohne sich die Mühe zu machen seine geschundenen und mit getrocknetem Blut und Dreck verkrusteten Sachen vorher auszuziehen, warf sich Harry in sein Himmelbett und zog die Vorhänge zu. Der Luxus von Privatsphäre und kuscheligen weichen Decken sorgte dafür, dass er beinahe augenblicklich einschlief. Harry hörte nicht wie die überlebenden Sieger in der großen Halle feierten und aßen, ganz so als wollten sie alle ihre erlittenen Verluste und den Schmerz vergessen und er hörte auch nicht, wie spät in der Nacht die Gryffindors in ihre Schlafräume gingen und Ron sich lautstark in das Bett neben ihn warf. Aus Kummer und Freude hatte dieser wesentlich mehr Feuerwiskey getrunken als er vertrug, sodass er den ganzen Abend schon traurige, aber sehr schöne Lieder trällerte. Irgendwo in seinem Gedächtnis hatte er sogar ein altes Lied über das Märchen der drei Brüder gefunden und er sang es noch leise vor sich hin während er ins Bett stieg. Er zwinkerte Neville zu, der nüchtern die Augen verdrehte, und grinste dann wissend.
Als Harry am Morgen aufwachte, war sein erster Impuls zu glauben, dass all die Geschehnisse der letzten Monate nur ein Traum gewesen waren. Doch die Realität packte ihn und traf ihn so hart dass er sich fühlte als hätte ihm jemand in den Magen geboxt. Er dachte an Fred, Remus Lupin, an Tonks, Colin Creevey, an all die anderen Menschen die wegen ihm gestorben waren, nur weil er seine Rolle in dieser Geschichte nicht früher erkannt hatte. Er konnte nicht mehr in die Gesichter seiner Freunde schauen, konnte sich dieser Schuld nicht stellen. Kurzentschlossen packte er seinen Tarnumhang, den er am Abend auf den Nachttisch gelegt hatte und schlüpfte darunter. Er ging leise durch den Jungenschlafraum, vorbei an dem schnarchenden Ron, die Treppe vom Turm hinunter. Im Gemeinschaftsraum lagen einige Schüler schlafend auf den Sofas und Sesseln, einige hatten sich Schlafsäcke herbeigezaubert und lagen in der Nähe des nun erloschenen Feuers. Harry erkannte einige Ravenclaws, deren Gemeinschaftsräume im höchsten Turm wahrscheinlich ein einfaches Ziel für die zerstörerischen Zauber der Todesser oder die Gewalt der Riesen gewesen waren. Harry dachte an die Statue von Rowena Ravenclaw und das Diadem das sie auf dem Kopf getragen hatte. Voldemort hatte mehr getan als Menschen zu foltern und zu töten, er hatte auch das Andenken an die Gründer der Schule, ja die Schule selbst entehrt. Durch seine Versessenheit seine Seele an die Relikte der Hogwarts-Gründer zu binden, hatte Voldemort Harry gezwungen diese zu zerstören und nun waren sie unwiederbringlich verloren. Ebenso wie die Heiligtümer des Todes. Harry zog seinen Tarnumhang enger um sich als er aus dem Portraitloch kletterte. Von der fetten Dame war nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie mit den anderen Gemalten gefeiert und schlief irgendwo im Schloss ihren Rausch aus. Harry suchte in seiner Tasche nach einem Zauberstab. Er fand stattdessen drei Stäbe und wunderte sich im ersten Augenblick. Da war der Weißdorn-Stab, der Draco Malfoy gehörte. Harry hatte vor, ihn seinem Besitzer zurückzugeben, sofern er die Gelegenheit dazu erhielt. Er wollte der Familie Malfoy nichts schuldig bleiben. Dennoch musste Harry sich eingestehen, dass der Sinneswandel von Dracos Mutter und die Sorge um ihren Sohn, Harry davor verschont hatten zu früh als Lebender entlarvt zu werden. Narcissa hatte damit ihr eigenes Leben gefährdet und Harry konnte nicht umhin dies wertzuschätzen. Vielleicht waren die Malfoys doch nicht so durch und durch böse wie er immer gedacht hatte. Dumbledores Zauberstab wog schwer in seiner Hand. Unwillkürlich fragte sich Harry doch, ob die Magie die der Elderstab hervorbringen konnte so viel stärker und mächtiger war. Fast war er versucht es zu probieren, wollte aber seine eigene Stärke und seinen Entschluss nicht auf die Probe stellen. Der Elderstab, ob er nun der Mächtigste war oder nicht, hatte keinem seiner Besitzer jemals etwas Gutes gebracht. Er war dem Stab dankbar, dass er seinen zerbrochenen Phönixstab repariert hatte, was in gewisser Hinsicht auch seine Fähigkeit bewies, Zauber zu vollbringen die kein anderer Zauberstab schaffte. Doch Harry würde Dumbledore seinen Stab zurückbringen und hoffen, dass dieses Heiligtum des Todes niemals wieder einen neuen Herrn haben würde.
Harry stapfte die Treppen herunter und ging stoisch an der großen Halle vorbei. Er wollte keinen Blick auf die Gefallenen werfen. Er fühlte sich schwach und schuldig und wollte nur noch fort. Hastig durchschritt er den Durchgang, an dem einst das Eingangstor gestanden hatte und jetzt nur noch ein Loch im Gemäuer klaffte. Das Schlossgelände lag halb zerstört da. Große Fußabdrücke und Kampfspuren der Riesen hatten den Rasen aufgeworfen. Je näher Harry dem verbotenen Wald kam, desto mehr Pfeile stecken im Boden, abgeschossen von den Zentauren die sich so spät doch noch dem Kampf angeschlossen hatten. Allerdings, so erkannte Harry am Radius des Pfeilhagels, hatten sie den Wald nicht verlassen.
Zügig schritt er zum still da liegenden See. Die aufgehende Sonne spiegelte sich im Wasser und nur hin und wieder störte eine Bewegung in der Tiefe die spiegelnde Oberfläche. Am Ufer des Sees konnte Harry das große, aus Marmor gebaute Grab Dumbledores erkennen. Voldemort hatte den weißen Stein in der Mitte gespalten um sich Zugang zum Sarg des Schulleiters zu verschaffen und noch hatte niemand diesen Zugang wieder geschlossen. Besorgt schaute Harry hinab, aber erkannte in der Tiefe keinen verwesenden Körper, sondern nur hell leuchtende weiße Tücher, in die eine große Gestalt gewickelt worden war. Harry war erleichtert, dass die Kämpfe der letzten Nacht die Ruhe des Lehrers nicht noch zusätzlich gestört hatten. Er hatte sogar Angst davor gehabt, einer der Todesser hätte Dumbledores Körper dafür benutzen können einen Inferi zu erschaffen. Harry zog den Elderstab hervor. Am liebsten würde er ihn einfach vernichten. Wenn er den Stab einfach zerbrechen könnte, wäre die Gefahr für immer getilgt und kein Zauberer und keine Hexe könnte mehr, bei dem Versuch ihn zu beherrschen sterben. Doch Harry wusste inzwischen genug über die eigene Magie der Zauberstäbe um zu wissen, dass er einen so mächtigen Stab nicht einfach entzwei brechen konnte. Dieser Stab war legendär dafür, jeden Zauber abprallen zu lassen und würde sich mit Sicherheit zu wehren wissen, gegen die Gewalt eines nicht mal achtzehnjährigen Jungen. Harry hob seinen eigenen reparierten Zauberstab aus Stechpalme und Phönixfeder und lies den Elderstab schweben. Langsam flog er herunter in die Kammer und Harry legte ihn auf den weißen Tüchern über Dumbledores Körper ab.
„Ich danke dir für alles.", murmelte Harry, halb zum Elderstab und halb zu seinem ehemaligen Schulleiter. Nun wo alles vorbei war und er um die Pläne Dumbledores wusste, würde der Schmerz seinen Beschützer und Lehrmeister verloren zu haben, ihm noch deutlicher bewusst werden. Schwerfällig trat Harry einen Schritt zurück. Mit einem letzten Blick auf das weiße Grab murmelte Harry: „Reparo!" und der schwere Stein schob sich zurück auf seine Position und die gespaltenen Hälften verschmolzen.
Harry hatte den Rand des Schlossgeländes erreicht, bevor er das erste Mal zurück auf die Schule blickte, die sich trotz der offensichtlich erlittenen Schäden jetzt ruhig und majestätisch in der Morgensonne empor reckte. Sein Blick glitt zu Hagrids abgebrannter Hütte, zu den Gewächshäusern, zum Quidditchfeld. Bevor er seine Entschlossenheit beim Anblick der Ländereien von Hogwarts und den damit verbundenen Erinnerungen schwinden konnte, ging Harry die letzten Schritte hinaus, drehte sich auf der Stelle und disapparierte.
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Harry Potter und die verlorene Zeit
FanfictionDer Krieg ist endlich vorbei, eine Zeit des Wiederaufbaus beginnt. Doch für Harry Potter, den Jungen der überlebte, starb und wieder lebt, wird es Zeit erwachsen zu werden. Und das ohne jemals eine richtige Kindheit oder Jugend gehabt zu haben. Die...