O N E

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Nach zwei Stunden Ausdauertraining war ich schon ziemlich müde, aber ich war froh über die Beschäftigung. Das war allemal besser, als nur herumzusitzen und über das Leben nachzudenken und wie unfair es doch war. Früher hatte ich mir nicht sehr viel bei solchen Sprüchen gedacht, doch jetzt war das ganz anders. Das Leben war unfair, aber wir konnten nichts dagegen tun. Wir konnten das Vergangene nicht mehr ändern. Ich sagte mir immer wieder, dass ich sowieso nichts hätte tun können und in meinem Gehirn wusste ich, dass das auch stimmte, doch mein Herz sagte mir da etwas ganz anderes.

„Hey ist alles in Ordnung? Du bist schon den ganzen Tag so abwesend.", sagte William, mein Trainer. Ich schüttelte den Kopf. „Alles gut.", murmelte ich, „Wo waren wir?" Er seufzte nur. „Wir werden jetzt noch die Choreographie üben." Ich nickte einfach nur und fuhr aufs Eis. Sobald ich begann mich im Takt der Musik zu bewegen, ging es mir ein bisschen besser. Nicht gut, aber es war ein kleiner Fortschritt.

Allerdings kam ich nicht sehr weit, da ich schon bei dem zweiten Sprung mein Gleichgewicht verlor und mit meinem ganzen Körper auf dem Boden landete. Als Eiskunstläuferin war ich es gewöhnt auf dem Boden zu landen und mir dabei auch blaue Flecken zuzuziehen. Schnell richtete ich mich wieder auf, da das Eis echt kalt war und ich wirklich keine Lust hatte mich zu verkühlen.

Mein Trainer schüttelte den Kopf, lächelte mich aber trotzdem aufmunternd an und erklärte mir meinen Fehler. Gleich versuchte ich es nochmal. Dieses Mal klappte es recht gut. Doch dann kam die Abschlusspirouette, für die ich, wie mir jetzt erst auffiel, viel zu wenig Schwung hatte. Ich seufzte und fuhr mit hängendem Kopf an den Rand, wo mich mein Trainer schon erwartete. Er raufte sich die Haare, nickte dann aber. „Ist schon okay. Jeder hat mal seinen schlechten Tag. Wir machen es einfach nochmal." Überrascht von seiner Nettigkeit, fuhr ich wieder in die Mitte der Halle. Normalerweise hätte er mich jetzt zu mehr Training oder so verdonnert. Hoffentlich ging es ihm gut.

Aber ich hatte keine Zeit mir weiter Gedanken zu machen, da die Musik einsetzte und ich meinen Trainer nicht enttäuschen wollte. Will war eigentlich noch ziemlich jung - erst zwanzig Jahre alt, trotzdem war er ein verantwortungsvoller und strenger Lehrer. Eigentlich war ja sein Vater mein Trainer, aber wir hatten uns schon immer gut verstanden, weshalb sein Vater immer seltener zu meinen Trainings kam und ich Will irgendwann für mich beanspruchte. Außerdem passte er irgendwie auf mich auf und half mir so gut es eben ging, er war fast schon so etwas wie ein großer Bruder für mich.

Ich setzte gerade zum letzten Sprung vor der Schlusspirouette an, als ich über die Musik meinen Handyklingelton vernahm. Innerlich verfluchte ich mich gerade. Wie konnte ich so blöd sein und vergessen es auf Lautlos zu stellen? Sofort schaltete Will die Musik aus und fragte: „Seit wann gilt das Handyverbot hier drinnen nicht mehr?" Ich zuckte zusammen und lief zu meiner Tasche. Dort kramte ich es schnell heraus, um den unerwünschten Anrufer wegzudrücken. Doch nach einem Blick auf das Display, nahm ich den Anruf doch an.

William durchbohrte mich förmlich mit seinen Blicken, aber ich drehte mich einfach mit dem Rücken zu ihm, um diesen zu entgehen. „Grüß Gott?", fragte ich. „Ja, grüß Gott. Hier spricht das Jugendamt. Wir wollten Ihnen nur mitteilen, dass wir mit Ihrer Tante gesprochen haben und sie meinte, dass sie Sie nur im Falle, dass sich keine anderen Verwandten melden sollten, aufnimmt." Ich nickte, mehr hatte ich auch nicht erwartet. „Natürlich, danke für die Information.", sagte ich höflich, bevor ich mich verabschiedete.

„Tut mir leid, das war wichtig.", murmelte ich und schaute meinen Trainer bedeutungsvoll an. „Natürlich. Ich denke wir beenden das Training für heute." Ich nickte knapp, in Gedanken war ich schon zuhause. Ich hatte wirklich keine Lust in dem großen Haus zu sein, ganz alleine. Schnell zog ich meine Schuhe um und packte meine Tasche.

William hielt mir die Türe auf, ich murmelte ein „Danke" und lief hinaus in die Kälte. „Weißt du schon wo du wohnen wirst?" Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich wollte ich überhaupt nicht darüber nachdenken, geschweige denn darüber reden. „Soll ich dich nach Hause bringen?", fragte Will und beendete das Thema damit. Eigentlich wollte ich nichts lieber als seine Frage zu bejahen, doch ich schüttelte den Kopf. „Mach dir keine Umstände. Du arbeitest wegen mir eh schon viel zu viel."

Lachend schüttelte er den Kopf. „So weit ist es nicht. Also ab in mein Auto.", meinte er bestimmend. Da ich keine Lust hatte zu diskutieren, folgte ich seiner Aufforderung widerspruchslos.

Die Autofahrt verlief relativ ruhig. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, doch das störte mich nicht. Ganz im Gegenteil, ich genoss seine gelassene Ausstrahlung und konnte mich endlich wieder entspannen. Vor meiner Haustüre verabschiedeten wir uns. Als Will mich in eine seiner Bärenumarmungen zog, hätte ich ihn am liebsten nie mehr losgelassen, doch er hatte auch eine Familie und musste nach Hause.

Meinen restlichen Abend gestaltete ich eher ruhig. Zuerst kochte ich mir eine Suppe, da ich keinen großen Hunger hatte und das Wetter so richtig winterlich war. Obwohl noch kein Schnee gefallen war, fror es schon. Ich fragte mich ob die ganzen Pflanzen etwas fühlten, wenn der Winter kam, oder ob sie innerlich tot waren. Innerlich tot - genau wie ich mich jetzt fühlte.

Als die Ärzte mir erklärten, dass mein Vater einen Herzinfarkt gehabt hatte, habe ich nichts gefühlt und auch jetzt fühle ich nichts. War das normal? Ich fühlte mich einfach leer, als hätte es eh keinen Sinn mehr. Natürlich hatte ich vor weiterzumachen. Aber es fühlte sich trotzdem merkwürdig an, all die Dinge alleine zu tun, die ich sonst mit ihm gemacht hätte. Mit ihm - meinem Vater, meinem Beschützer, meinem besten Freund, meinem Ein und Alles. Wir waren immer ein Team. Viele können sich nicht vorstellen, wie es ist alles mit seinem Vater zu machen, während ich mir nie vorstellen konnte, etwas ohne meinen Vater zu machen und doch war ich jetzt auf mich alleine gestellt.

Mit meinem Essen setzte ich mich ins Wohnzimmer und schaute fern. Mechanisch aß ich die Suppe, den Blick stur auf den Bildschirm vor mir gerichtet und versuchte möglichst nicht nachzudenken, bis ich schließlich, in eine Kuscheldecke eingemummelt, einschlief.

Jump Until It Feels Like FlyingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt