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Jasper ging mit schnellen Schritten den schneebedeckten Hügel hinauf. Lily folgte ihm. Zunächst war Gras unter dem Schnee zu erahnen, dann konnte man Geröll erkennen.

Das Rauschen des Meeres und das Krachen, wenn es gegen die Felswände schlug, wurde immer lauter. Salz sammelte sich auf Lilys Oberlippe, eine einsame Möwe ließ sich über ihren Köpfen von den Windböen hin und her werfen.

Kurz bevor Lily den Vorsprung erreichte, verharrte sie. Jasper stand am Abgrund, aus ihrer Perspektive wirkte es beinahe so, als würde er schweben. Der Wind zerzauste die dunklen Haare, Jaspers Hände waren in den Tiefen seines gefütterten Umhanges verborgen. Er grinste, als er sich umdrehte.

„Müde?"

„Hättest du wohl gerne", gab Lily spöttisch zurück. Dann nahm sie die letzten Meter im Laufschritt, bis sie atemholend neben ihm angelangt war. „Schön, oder?", brüllte Jasper, aber Lily konnte ihn kaum verstehen. Meerwasser spritzte aus der Tiefe zu ihnen empor, die anrollende Welle unter ihnen erweckte den Anschein, den Fels zertrümmern zu wollen.

„Ja, richtig schön!", schrie Lily zurück und versuchte sich, ihre Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen. Der Wind peitschte sie sofort an Ort und Stelle zurück. „Du hast Noah nichts davon erzählt, oder?" Jasper runzelte die Stirn. Lily konnte seinem Gehirn förmlich dabei zusehen, wie es versuchte, aus den einzelnen verstandenen Wörtern einen halbwegs sinnvollen Satz zu bilden.

„Was?"

„Über deinen Rücken, Jasper!", schrie Lily dem Wind entgegen und tippte ihm demonstrativ auf die Schulter. Jasper starrte auf die dunstige Horizontlinie, bei der man sich nicht sicher sein konnte, wo der Himmel aufhörte und das Meer begann.

„Wäre doch ein komisches Gespräch gewesen. 'Hallo Noah, erinnerst du dich noch an Dad's Werkstatt? Da drin war so ein Riesenkaktus und ob du es mir glaubst oder nicht, der hat mir sogar den Rücken verätzt. Ich hab sogar Narben, willst du sie mal sehen?'"

Jasper lächelte ein bitteres Lächeln und vergrub seine Hände noch tiefer im wärmenden Innenfutter. „Glaubst du denn, gar nicht mehr mit ihm zu reden sei eine bessere Lösung?" Der Wind hatte für einige Sekunden nachgelassen, Lilys Worte klagen unnatürlich laut, sodass sie fast zusammen gezuckt wäre.

„Es ist nicht immer so einfach. Nichts von diesem Mist ist einfach! Vielleicht verstehst du es nicht-" Jasper verzog hilflos das Gesicht. „Weil ich selbst keine Familie habe?", setzte Lily an seiner Stelle für ihn fort.

„Vielleicht."

Eine besonders große Welle ließ ihre Körper vibrieren. „Denn egal was ich auch tue, es wäre doch alles irgendwie verkehrt." Lily schwieg, er ballte seine Hände zu Fäusten.

„ES WÄRE VERDAMT NOCHMAL ALLES FALSCH!", schrie er dem Meer entgegen, als glaube er, es könne ihn besser verstehen als Lily. Sie trat zögerlich näher, wollte ihm eine Hand auf die Schulter legen. Aber Jasper drehte sich weg. „Entschuldige", sagte er dann.

Lily konnte seine Worte nicht verstehen, konnte sie nur durch seine Lippenbewegungen erraten. „Entschuldige bitte", wiederholte er ein zweites Mal. Dann spürte Lily plötzlich Jaspers Arme um ihren Körper, wie er sie in eine Umarmung zog. Sie sog den beruhigenden Geruch nach Lakritz und Jasmin ein. Lediglich durchmischt mit einer feinen Brise Meeresrauschen.

„Danke, Mée. Ich-", hörte sie ihn unsicher vor sich hin nuscheln. „Ja, Jasper", antwortete sie leise und drückte ihn ein wenig fester. „Ich glaube, das waren die schönsten Weihnachtsferien in meinem Leben."


Sie blieben noch eine ganze Weile am Rande der Klippen stehen, Schulter an Schulter, um dem harschen Wind trotzen zu können. Trotzdem waren Lilys Finger schon eiskalt, als sie Rosalies blonden Haarschopf über die Hügelkuppe kommen sah. Sie deutete entschuldigend auf ihre Umhängetasche.

2 - AschemädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt