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Als Lily aufwachte, war sie alleine. Kein pfeifender Professor Dumbledore, der am Bettende saß und auf und ab wippte. Und von Sev war auch keine Spur. Sie blieb einige Momente regungslos liegen und überlegte, wie sie sich fühlte.

Auf jeden Fall besser, als noch vor einigen Stunden entschied Lily und setzte ihre Füße langsam auf den kalten Steinboden. Sie trug weder Socken noch Schuhe, Sev hatte ihr beides ausgezogen und ordentlich nebeneinander unter den Nachttisch gestellt. Neben den silbernen Kelch.

Mit ruhigen Bewegungen zog sie sich die Socken über die Füße, wartete auf den Schwindel, das Drehen in ihrem Kopf. Aber er blieb aus, selbst als sie sich bückte, nach ihren Schuhen langte und hinein schlüpfte.

Sevs Schlafzimmer hatte keine Fenster, es war unmöglich zu sagen, wie spät es war. Lily streckte sich nach dem Kelch, in dem sich der Schlaftrank befunden hatte. Sie würde ihn Sev zurückgeben und fragen, wie spät es war. Unter anderem natürlich.

Zum Beispiel, warum er es für eine gute Idee gehalten hatte, sie nach Harrys toten Mutter zu benennen. Mit der er zum damaligen Zeitpunkt nichts gemein gehabt hatte. Harry hatte Voldemort zurückgeschlagen, Voldemort hatte Harrys Eltern getötet. Die Widerstandskämpfer gewesen waren in einer Zeit, in der Sev auf entgegen gesetzter Seite gekämpft hatte.

Lily umfasste den silbernen Anhänger der Hirschkuh, der um ihren Hals hing. Die ganze Hirschkuhgeschichte, so hatte Lupin es bezeichnet. Und diese Hirschkuhgeschichte war aller Voraussicht daran schuld, dass Lily den Schmuck einer toten Frau trug. Woher auch immer Sev das Schmuckstück haben sollte. Ein weiterer Punkt auf der imaginären Liste ihres unerschöpflichen Fragenkataloges.

Lily blieb vor der Tür, die in Sevs Zaubertrankbrauerei führte, stehen. Klopfte an und wartete.

Dumbledore hatte gesagt, dass Sev Lupin den Trank zu bereiten würde. Nach der Prüfung, die Lily verschlafen hatte. War es denn schon nach der Prüfung? War es womöglich sogar schon nach Sonnenuntergang? Dann hätte sie Seidenschnabels Hinrichtung ebenfalls nicht mitbekommen.

Lily verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. Merkwürdigerweise konnte sie immer noch spüren, dass das Bein, das vor mehr als einem Jahr von Oliver Woods Freund weggehext wurde, weniger kräftig war als das andere. Außerdem kribbelte es in ihrem linken kleinen Zeh.

Ein weiteres Klopfen, dann drückte sie die Klinke herunter und stand mitten im trüben Dämmerlicht. Vereinzelte Lichtflecken zerstoben an den nebligen Dampfschwaden, die noch in der Luft lagen. Lily sog den beruhigenden Geruch der Silberlinde ein, trat ein paar Schritte in den Raum hinein und sah, dass die goldene Waage zusammen mit einer geöffneten Schatulle Mondsteinpulver noch auf der Arbeitsplatte stand.

Mit routinierten Bewegungen räumte Lily Waage und Pulver zurück und starrte in die Leere. Sollte sie jetzt einfach ihre Sachen packen und zurück in den Gemeinschaftsraum gehen? Sev hätte wenigstens den Anstand besitzen können, da zu sein, wenn sie aufwachte. Oder eine Nachricht zu hinterlassen.

Lily schnaubte leise, kontrollierte, ob sich ihr Zauberstab an Ort und Stelle befand. Dann verließ sie die Kerker und machte sich auf den Weg zu Lupins Büro. Wenn der Duft des Wolfsbanntrankes noch so eindringlich in der Luft lag, konnte es nicht lange her sein, seitdem Sev ihn abgefüllt und hoch gebracht hatte.

Hogwarts besaß abertausende von Treppenstufen. Ein Fakt, der Lily bewusst gewesen war, den sie aber noch nie so bewusst am eigenen Leib erlebt hatte. Sie brauchte länger als normalerweise, fühlte sich mit jeder Stufe müder und müder.

Die wenigen Schüler, denen sie begegnete, beachteten sie nicht. Zwei Slytherinmädchen lachten und kicherten aufgeregt, verstummten jedoch, als Lily sich näherte. Sie hätte gerne ein wissendes Lächeln aufgesetzt, angesichts der Tatsache, dass sie ahnte, dass sich ihre Pläne auf die nahende Feier im Gemeinschaftsraum bezogen, aber dafür fehlte ihr die Energie.

2 - AschemädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt