Eine zweifelhafte Ehre

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Inzwischen war man in der Wallhalle mitten im letzten Programmpunkt angelangt: Jedem neuen Erzähler wurde mit Henna die epische Feder auf den Wangenknochen gemalt. Außerdem ernannte die Sekretärin zu solchen Anlässen einen persönlichen Erzähler, den sie in ihre Dienste nahm. Normalerweise war dies die größte Ehre, die einem zuteilwerden konnte, doch die Vorfreude hielt sich bei den möglichen Kandidaten in Grenzen. Sie war schließlich bekannt dafür, sich aus der Abenteuersache möglichst herauszuhalten. Als alle Federn verteilt waren, trat die Zeremonienmeisterin wieder vor und bat mit einer ausladenden Geste abermals um Ruhe.

„Eines, meine Lieben, wäre nun noch zu erledigen. Wir vergeben nun die Erzählerstelle in Epizentrum. Die Sekretärin hat ihre Wahl hoffentlich getroffen. Wer ihre Entscheidung anfechten möchte, meldet sich bitte nach der Veranstaltung bei mir oder einem Angehörigen des Wallstädter Gerichtshofes", verkündete sie, schaute allerdings mit einem Blick in die Runde, der einem riet, diese Möglichkeit gefälligst nicht in Betracht zu ziehen.

Im Hintergrund diskutierte die Sekretärin noch mit ihrem Sohn über die richtige Wahl, bevor sie ebenfalls vortrat und ihren Entschluss in aller Kürze mitteilte: „Ylaine!" Dann wandte sie sich um und verließ die Bühne. Verhaltener Applaus war zu vernehmen und Skotchsson legte der Auserwählten bedauernd die Hand auf die Schultern. „Soll ich für dich Einspruch einlegen und mich aufstellen lassen?", bot er ihr in seiner freundschaftlichen Opferbereitschaft an. Sie grinste resigniert, spielte nervös mit ihrem langen Zopf.

„Schon gut... Vielleicht wird es ja aufregend und die Bezahlung ist auch gut. Außerdem erhalte ich Förderungen für meine Projekte. Und es ist ja auch nur für ein Jahr", antwortete sie schließlich, nicht ganz so überzeugt von ihren Argumenten.

„Ah, du willst dich an Ronen den Ronin ranmachen. Kluges Mädchen, der ist vielleicht etwas verklemmt aber bestimmt eine ausgezeichnete Partie", konterte ihr Kumpel und tippte sich an die Nase.

„Dann handle mal deinen Arbeitsvertrag aus", verabschiedete er sich, nicht ohne Ylaine kurz zu umarmen. Sie atmete tief durch und drängelte sich durch die glückselige Meute, die entweder ihre Sprösslinge bis zur Besinnungslosigkeit mit Liebe überschüttete oder einfach nur die letzten Leckerbissen vom Buffet einsackte. Durch all den Trubel wandelte Ylaine wie in einer Blase. Abgeschottet von den anderen, begutachtete sie zufriedene Gesichter und das peinliche Verhalten stolzer Eltern. Sie konnten aufgeregt über die vergangenen Höhenflüge und Fehltritte diskutieren, lachten über kleine Streiche, für die sie vorher eine saftige Strafe kassiert hätten und malten sich ihre zukünftigen Ruhmestaten in den schillerndsten Farben aus.

Das einzige Lob, dass Ylaine erwarten durfte, war ein nüchterner Händedruck, wenn sie ihren Arbeitsvertrag unterschrieb. Sie wusste noch nicht einmal, womit sie sich den verdient hatte. Gut ihre Inszenierungen waren nicht von schlechten Eltern gewesen und sie hatte stets irgendwo ihre Finger im Spiel. Aber das war immer im Hintergrund gewesen. Die Fäden zu ziehen, ohne dass jemand von ihrem Eingreifen erfuhr, Geschichten lenken, die aus zufälligem Chaos zu entstehen schienen... Das war ihr Stil.

Offenbar gab es doch eine Person, die sie bei all ihren Aktivitäten beobachtet hatte und außerdem in engem Kontakt mit der Sekretärin stand. Ansonsten hätte man wohl den überragenden Wong-Zwillingen mit ihrem astronomischen Budget, sowie dem sicherlich gewinnbringenden Einfluss des dazugehörenden Clans den Vorzug gegeben. Wer einen Wong engagierte, bekam den Clan gratis dazu – mit allen positiven und negativen Konsequenzen.


Das hatte dann wohl den Ausschlag für die Entscheidung gegeben, überlegte Ylaine. Kurz vorm Hinterausgang der Wallhalle wurde sie zurückgehalten. Erstaunlicherweise waren es die besagten Zwillinge. Sie hatte deren Anwesenheit in der Schule mit diplomatischer Gelassenheit hingenommen und sich aus dem ewigen Kleinkrieg Wong vs. Rest der Schülerschaft herausgehalten. Das machte sie in den Augen der Geschwister anscheinend zu einer Freundin, denn die beiden begrüßten sie mit einer kameradschaftlichen Verbeugung.

„Wir beglückwünschen dich zu der Ernennung und schätzen deine Art mit Konflikten umzugehen. Es wird dich weit bringen", erklärten sie im Duett.

„Äh, vielen Dank... Ich tue mein Bestes. Was macht ihr denn so nach der Schule?"

„Wir werden wohl nach und nach die Koordination der Teesippenlegende übernehmen, ein großer Erfolg vor allem im asiatischen Raum der realen Welt", erklärten sie, „Die Serie läuft dort schon in der fünften Staffel und es ist kein Ende in Sicht."

Sie verbeugten sich abermals und überreichten Ylaine noch eine Visitenkarte, um anschließend zu ihrer Familie zurückzukehren. „Wir hoffen, dass wir in Kontakt bleiben", riefen sie noch, bevor sie in einem Pulk hintergründig lächelnder Asiaten verschwanden. Seufzend drückte Ylaine die Klinke der Hintertür herunter, die mit einem sanften Quietschen aufschwang.

„Uahh!" Erschrocken sprang sie einen Meter zurück. Sie hatte die Hand schon an ihr gut verstecktes Messer gelegt, als sie die Zeremonienmeisterin erkannte. „Lass die Klinge stecken, Kindchen", flüsterte sie und lächelte schief. „Entschuldigung", murmelte die Neuerzählerin und fühlte sich sofort ertappt.

„Kommen wir zur Sache, Liebes. Die Zeiten sind merkwürdig, genauso wie die Entscheidung der Obrigkeit. Nichts für Ungut, aber normalerweise werden für den Job immer repräsentative Platzhirsche ausgewählt, du weißt schon viel Brimborium und mit allem einverstanden, womit man im Gespräch bleibt", plapperte die alte Frau. „Anderseits passt so ein Mauerblümchen wie du perfekt zu einer Sekretärin, die lieber mit ihren Unterlagen als mit ihren Untertanen spricht. Es ist merkwürdig, dass zwei wie ihr so bedeutende Posten ergattern konntet..."

Plötzlich kniff sie die Augen misstrauisch zusammen und musterte Ylaine scharf, die mit verblüffter Höflichkeit lauschte. Schließlich merkte die junge Erzählerin, dass eine Antwort gefordert wurde. „Möglicherweise liegt dieser Wandel begründet in Ereignissen, die besonnene Ermittlungen erfordern und keine buntgeschmückte Axt im Walde", philosophierte sie aus dem Stegreif und wand sich mit einem artigen Knicks an der Dame vorbei, die ihr nachdenklich nickend hinterherschaute.

Hinter der Tür führte eine hell beleuchtete Wendeltreppe entweder nach oben auf den Wall, in dem sie sich aktuell befanden oder hinab zu dessen Fuß, wo sich eine Zeltstadt erstreckte, direkt beim großen Platz, der je nachdem als Bushaltestelle oder Parkplatz für allerlei Fahrzeuge diente. „Sie ist unten!", brüllte die Zeremonienmeisterin von hinten, dann knallte die Türe zu. Also trabte Ylaine die Treppe runter und fragte sich, warum nicht auch hier Aufzüge verwendet wurden.

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