Ihr Blick wanderte zu den Hufen, die unruhig scharrten und zu dem Beil, dass er in den massigen Händen hielt. Sie konnte keine Nähte am Fell erkennen. Das musste wirklich ein erstklassiger Schneider sein, der dieses Kostüm angefertigt hatte.
Dann spürte sie Hände, die sie von hinten abtasteten. Mit zusammengepressten Zähnen ließ sie die Prozedur über sich ergehen. „Sie hat nur das Messer", rief eine Frauenstimme dem grimmigen Gesellen zu. Er schnaufte erbost und kam noch ein Stück näher an sie heran. Als nächstes öffnete die Gestalt hinter Ylaine den Gürtelbeutel und zog die versiegelte Nachricht heraus. Schon stand sie damit neben dem Krieger. Auch sie war von der Taille abwärts tierischer Gestalt, mit weißem Fell. Leder verhüllte die kritischen Stellen. Auch ihr Haupthaar war von derselben Farbe silberner Spinnweben. Zusätzlich zierte ein schlankes Horn ihre Stirn. „Na da schau her", schnaubte sie mit einer verächtlichen Derbheit in der Stimme, die man ihrer feinen Erscheinung gar nicht zugetraut hätte, „da hat wohl jemand einen dicken Stein bei unseren gebildeten Freunden im Brett."
Sie las das Schreiben durch, runzelte die Stirn, stieß nochmal die Luft durch die Nase aus, doch diesmal auf eine andere Weise, die eher leichte Besorgnis ausdrückte und reichte den Papierbogen weiter. „Du traust dir ganz schön was zu, Fräulein", bemerkte der Krieger und gab Ylaine das Pergament zurück. Sie steckte es wieder ein und nahm schließlich die Kappe ab. Ihr langer Zopf entrollte sich und zog an ihrer Kopfhaut. Ihr war, als habe sie sich gerade aus einem Ganzkörperkostüm gequält.
Die Faunfrau pfiff anerkennend und auch der Mann schien sich zu entspannen. „Ah, das ist gut. Wir dachten schon, Renoir hätte sein Vertrauen in eine dieser Dorftucken gesetzt." Grinsend nahmen die beiden Ylaine in die Mitte. „Wir werden dich natürlich nicht zu unserer Sippe führen", erklärte sie, „aber das ist auch nicht nötig, da die Stationen ein Stück abseits bei den ersten Ausläufern des Gebirges liegen."
„Du musst verstehen, wir wollen uns nur schützen. Die meisten Stämme haben ihr Vertrauen in die Menschen verloren. Spätestens seit der Zirkusjagd vor fünf Jahren, haben wir von der zivilisierten Welt die Schnauze voll."
Ylaine nickte und rief sich das Ereignis in Erinnerung. Damals hatte irgendein Idiot es für eine gute Idee gehalten, Fabelwesen in einen Zoo zu stecken und Kopfgelder ausgeschrieben. Die Folge war, dass ganze Horden genauso verrückter Berserker die Stämme heimsuchten. Es hatte die Sekretärin damals ziemlich viel Mühe gekostet, die derzeitigen Herrscher davon zu überzeugen, dass man dagegen vorgehen müsse.
Eine Weile wanderten sie schweigend durch den Wald, der sich langsam lichtete. Bald erreichten sie die ersten Ausläufer des Gebirges. Schließlich ließen sie das Grün komplett hinter sich und vor ihnen ragte ein atemberaubendes Panorama aus Bergspitzen und Gesteinsformationen auf. Die Faune wandten sich nach rechts. Hier und da blieb einer von ihnen zurück oder lief voraus. Ylaine war neugierig, was sie denn machten. „Die Stationen sind nicht frei zugänglich. Es ist ein spezielles Geheimnis unserer Organisation und da es so bleiben soll, haben wir gewisse Vorkehrungen getroffen. Schließlich sind wir kein öffentliches Verkehrsnetz."
Sie stutzte. Das Wort Organisation klang aus dem Mund eines Fabelwesens geradezu hochkonspirativ und passte überhaupt nicht zu den Gruppen, die sich in die Natur zurückgezogen hatten, weil sie des alltäglichen Katz-und-Maus-Spiels überdrüssig geworden waren.
„Was für eine Organisation?", hakte sie nach, erntete jedoch lediglich amüsierte Blicke. Sie kamen noch an einigen kleineren Felsformationen vorbei, um dann vor einer Ruine halt zu machen, die wohl mal ein Turm gewesen war. „Dreh dich um", forderte die Frau und stemmte die Fäuste in die Hüfte. Ylaine gehorchte und schaute erst wieder hin, als sie das Quietschen alter, rostiger Scharniere vernahm. Von außen war keine Veränderung wahrzunehmen. Etwas musste sich hinter den Mauerresten getan haben. Ihre Begleiter nahmen sie in die Mitte, während sie das Innere betraten. Obwohl draußen allerlei Trümmerteile lagen und es aussah, als sei das gesamte Bauwerk eingestürzt, führte eine vollkommen intakte Wendeltreppe in die Tiefe. „Es gibt auch einen Aufzug aber der ist weiter entfernt", brummte der Faunenmann.
Plötzlich wurde es hell. Ylaine taumelte und konnte sich noch am Geländer festhalten. Sie blinzelte erschrocken, bis sie begriff, dass es sich um elektrische Deckenlampen handelte. „Ihr seid ein merkwürdiger Haufen", murmelte sie resigniert. Nach gefühlten tausend Stufen erreichten sie endlich das Untergeschoss. Hier hatte der Architekt das grelle Deckenlicht durch gedimmte, orangefarbene Leuchter in Fackeldesign ersetzt, die unheimliche Fratzen an der Gewölbedecke enthüllten. Neugierig schritt Ylaine vorneweg, um alles gebührend in Augenschein nehmen zu können, als sich aus dem Nichts ein Schatten erhob. Instinktiv griff sie in eine ihrer Taschen und schleuderte einen ihrer Jonglierbälle, der beim Aufprall weiter vorne platzte und eine beeindruckende Rauchexplosion auslöste. Kein Schrei oder Keuchen war aus der Wurfrichtung zu hören. Sie rollte zur Seite, war mit einem Satz hinter dem mutmaßlichen Angreifer und richtete das Messer dahin, wo sie den Rücken vermutete, bekam sogar etwas Stoff von der Kleidung zu fassen. Der Fremde rührte sich nicht. Von den beiden anderen hörte sie nur empörtes Husten. Als der Qualm sich verzogen hatte, erkannte sie, dass sie es mit einer Holzfigur zu tun hatte.
„Dem Püppchen hast du es aber gegeben", witzelten die beiden. Anstatt wütend zu werden, suchte Ylaine nach einem passenden Konter: „Na wenn das alles ist, was ihr zur Verteidigung eurer super geheimen Fortbewegungsmethode zu bieten habt, kann es ja nicht allzu viel hermachen."
„Der war schwach!"
„Für euer Niveau vollkommen ausreichend!"
Kurz dachte sie, sie wäre zu weit gegangen. Doch dann lachten alle versöhnlich und man erklärte ihr, dass die Erbauer einen Faible für Geisterbahnen gehabt hatten. Tatsächlich erreichten sie am Ende des Ganges eine kleine Kabine, aus der normalerweise Fahrkarten verkauft wurden. Sie ähnelte einer verfallenen Gruft, spinnwebenverhangen und von Geisterlicht erhellt, das Schatten tanzen ließ, wo man keine erwartete.
Der Faun öffnete eine Türe an der hinteren Seite und schob sich geduckt in das enge Büdchen. „Wo ist dieser verfluchte... ach da...", knurrte er, tippte irgendwo herum, scharrte mit den Hufen. Ein einzelner Scheinwerfer flackerte auf. In der Ferne ratterte ein Wagen heran. Es war tatsächlich ein typischer Achterbahnwagen mit Sicherheitsbügeln. Doch die Fratzen, die das Gefährt zierten waren nicht die üblichen Monster sondern karikaturistisch verzerrte Menschengesichter. Bei näherem Betrachten erkannte Ylaine, dass es sich um reale Personen handelte. Darunter befanden sich Portraits früherer, oftmals umstrittener Stadtoberhäupter und anderer Prominenter. Sie war nicht ganz sicher, ob nicht sogar ein Wong sie schief anlächelte.
Sie wusste, was kam und war nicht sicher, ob sie begeistert war. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihr aus, als der Bügel einrastete. Die beiden anderen machten keine Anstalten, ebenfalls einzusteigen. Fragend wandte sie sich zu ihnen um. „Ihr bleibt hier?", fragte sie, konnte dabei ein leichtes Zittern in der Stimme nicht unterdrücken.
„Jup. Ein Tipp noch: Halt deinen Zopf fest!"
DU LIEST GERADE
Federlesen
AdventureEine Insel, auf der Geschichten erlebt werden. Doch ein Schatten legt sich über das Idyll, als jemand Protagonisten umbringt. Ausgerechnet die unerfahrene Erzählerin Ylaine soll die Verbrechen aufklären. Begleitet wird sie von einem weltoffenem Prie...