Das Beweisstück

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Der Abend konnte gar nicht schnell genug hereinbrechen. Ylaine hatte bereits ein dutzend Male ihre Ausrüstung überprüft und spielte unruhig mit ihrem geschwärzten Haar. Ein Großteil der Kohle befand sich mittlerweile an ihren Händen.

Endlich öffnete sich die Zeltplane. Piff und Tiff streckten die Köpfe herein und grüßten schelmisch grinsend. "Totsi und ein paar andere geben den Dorfleuten gerade eine kleine Kostprobe. Die Wachen sind eher damit beschäftigt sie anzuglotzen als auf ihren Schützling zu achten. Wette, der ist nicht halb so attraktiv." Die beiden knufften sich. Ylaine dagegen drängte zum Aufbruch: "Dann sollten wir keine Zeit verlieren! Wie lautet der Plan?"

Der Plan beinhaltete ein leise eingeschlagenes Fenster auf der Rückseite der Wachstube, den ebenso lautlosen Gebrauch eines Dietrichs und schnelle Reflexe, falls eine Wache drinnen postiert war. Das Trio schlug einen nicht allzu großen Bogen um die Schaulustigen, deren Augen an Totsis Verrenkungen klebten. Eine dunkle Seitengasse führte sie ans Ziel. Kurz versichern, dass hier keine neugierige Nase zum Fenster rausschaute oder hinter Ecken hervorschnüffelte. Vom Vorplatz erklangen Jubelrufe und Flötentöne.

Tiff linste zunächst durchs Fenster: Kein Licht drinnen. Es klirrte. Das Einbrechertrio verharrte geduckt. Ylaines Puls dröhnte, ihr Herz flatterte, während sie auf plötzliche Rufe und aufblitzende Uniformen wartete. Nach einer gefühlten Ewigkeit riss Tiff sie aus ihrer Trance. Piff war schon längst reingeklettert, huschte zu einer Tür an der Seite, die aller Logik nach zu den Verliesen führen musste. Dort entzündete er eine Kerze und begann am Schlüsselloch rumzufummeln. Von draußen drang immer noch vergnüglicher Lärm herein. Aber waren da nicht Schritte, die sich der Stube näherten?

Das Schloss kapitulierte mit einem leisen Klick. Der Weg war frei. Piff tauchte zuerst in die Dunkelheit ein, gefolgt von Ylaine. Tiff blieb zurück. Im schwachen Kerzenschein huschten Schatten über den kalten Steinboden und ließ die Maserungen der Holztüren zittern.

"He!" Die beiden wirbelten herum. Wer? Wo? "He", erklang es erneut aus der Zelle links von ihnen, "Ihr Arschgeigen kriegt mich nicht klein! Ich beiß euch die..." Der Rest ging in einem Hustenanfall unter. Sofort war Piff an der Tür. "Halt den Mund da drin, sonst erwischen die uns noch und du baumelst morgen wirklich am Galgen." Mit flinken Fingern zwang er auch dieses Schloss zur Aufgabe. Ylaine stand daneben, das Messer in der Hand. Auch wenn die Figur in der Zelle ein Opfer war, sie klang nicht besonders sympathisch. Sie warf einen kurzen Blick zur Wachstube, wo sie Tiffs Umriss erkannte.

Die Zellentür schwang quietschend auf. Genau dahinter stand ein kräftig gebauter aber nicht allzu großer Typ. Ein wüstaussehender Bart und schwarze Haare umrahmten das schmutzige Gesicht. "Was seid ihr für Clowns?", raunzte er. Kurz darauf sackte er auf die Knie und Piff rieb sich die Hand. "Klappe oder wir lassen dich doch hier", zischte er, während er ihn umrundete. Man hatte dem jungen Mann die Hände auf den Rücken gefesselt und zusätzlich stramm mit einer Schlinge um den Hals verbunden. Offenbar hatte man auf Nummer sicher gehen wollen. Oder ein Scherzkeks wollte ihn schonmal an den Galgen gewöhnen.

Nachdem die Fesseln durchgeschnitten waren, flankierten Ylaine und Piff den Kerl und bewegten sich Richtung Wachstube. Tiff winkte energisch und hielt den Finger an die Lippen. Es gab eine Treppe auf der anderen Seite des Raumes. Genau von dort erklangen Schritte und Klirren. Tiff wies zum Fenster. Piff eilte voraus, um draußen die Lage zu sondieren. Ylaine folgte mit dem Opfer, danach Tiff. Gerade als der Kerl sich vor ihr hinausgequetscht hatte, brüllte hinter ihnen jemand: "Einbruch! Der Gefangene flieht!"

Hastig stürzten auch Ylaine und Tiff nach draußen. "Die Straße entlang liegt ein Stall. Schnappt euch ein Pferd und haut ab", befahl Piff, "wir lenken ab!" Ohne weiteres Zögern packte Ylaine den Gefangenen und sprintete in die angegebene Richtung. Am Rande registrierte sie, dass die vorher allgegenwärtige Musik verstummt war, stattdessen ertönten gebrüllte Befehle, vereinzeltes Gezeter und Schritte hinter ihnen. Sie rannten weiter. Die Häuserreihen dünnten schlagartig aus. War ja nur ein Kaff. Vor ihnen lag der Stall. "Stehen bleiben, wir schießen!", dröhnte es hinter ihnen. "Leckt mich!", brüllte ihr Mitläufer über die Schulter.

Ylaine riskierte einen Blick. Und erschrak. Für einen kurzen Moment glaubte sie, Renoir bei den Verfolgern zu erkennen. Doch weder das protzig zur Schau getragene goldene Kreuz noch dieser Gesichtsausdruck, geschnitzt aus heiligem Holz, das satanische Maden witterte, passten zu ihm. Es war derselbe Hochstapler, den sie bereits kannte.

Sie erreichten gerade das Stallgebäude. Ein Tier, das draußen angebunden war, starrte sie irritiert an und schnaubte unruhig. Ein Knall ertönte dicht neben ihr. Ylaine dirigierte den Mann weiter. Aus der Ferne hörte sie den Inquisitor: "Nicht auf das Mädchen! Feuer einstellen." Trotzdem knallte es noch zweimal aus Pistolen, die eigentlich gar nicht existieren durften auf dieser Insel. Schmerz breitete sich in ihrer Schulter aus, etwas biss ihr in die Wade.

Aber sie musste entkommen, zusammen mit diesem unsymphatischen Typ. Er kannte die Gesichter. Er war der Beweis. Irgendwie schafften beide es aufs Pferd. Er klammerte sich an sie, während sie das Tier antrieb. Rufe gellten. Man wollte sie fangen, schickte Hunde los. Sie sprengten davon. Der Waldrand versprach Schutz. Weiter, der Vorsprung war klein. Äste schlugen ihnen entgegen. Auch die Verfolger würden ihre Probleme haben. Irgendwo ganz weit entfernt spürte sie Schmerzen. Wortfetzen, unverständliche, erreichten sie. Ob sie von den anderen stammten oder ihrem Mitflüchtling? Sie wusste es nicht. Wo befanden sie sich? Hinter ihnen wurde es lauter. Unbekannte Mitspieler hatten sich eingemischt. Die Gaukler? Die Faune? Ronen? Sie ließen den Lärm zurück.

Mit vernebelten Sinnen versuchte Ylaine die Orientierung zu finden. Vergeblich! Egal, weiter! Sie wusste nicht, wie lange sie geritten waren, geschweige denn in welche Richtung. Sie zügelte das schwer atmende Pferd und ließ es langsamer weitertraben.

„Wohin?", fragte ihr Begleiter. „Weg, zur nächsten Stadt, zur Polizei!", entgegnete sie, spürte einen heftigen Schmerz und stürzte vom Pferd. Er hatte sie niedergeschlagen, mit bloßen Fäusten. Hundegebell näherte sich. „Idiot, jetzt kriegen sie uns!", stöhnte sie, als sie mit verschwommenem Blick den Wolfshund erspähte, der nach der Hand des Mannes schnappte, die ihr eigenes Messer hielt. Ein kleiner schwarzer Pudel erschien neben ihm. Dunkelheit, wohlige Dunkelheit. Der Schmerz trollte sich. Vermutlich legten er und ihr Bewusstsein eine Pause im Pub ein.

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