Das Krankenhaus lag am Rand des inneren Stadtrings. Eigentlich gab es eine solche Aufteilung nicht, aber es hatte sich so eingebürgert, den hochtechnisierten Stadtkern als inneren Ring zu bezeichnen. Je weiter man sich allerdings davon entfernte, desto größer wurden die Lücken zwischen den Häusern und desto weiter schien man vom Zeitstrom in die Vergangenheit zurückversetzt zu werden. Die windradbewaldeten Glas- und Stahlriesen schrumpften zu Hütten, die irgendwann ganz verschwanden und in gemütliche Höhlen übergingen. Die Klinik, an der Ronen entlang schlich, lag sozusagen am Rande der Moderne.
Der Eingang war hell erleuchtet. Ein Krankenwagen verließ einen Sonderparkplatz.
Aus reiner Angewohnheit und weil er gerne Spion spielte, kroch Ronen unter der Theke vorbei, an der eine gelangweilte Rezeptionistin die Epian-Times las. Auf der Titelseite prangte ein Foto der Grube, in der Ylaine und Nigel gefunden worden waren. „Versinkt Epien im Chaos?", lautete die Überschrift.
Fast hatte er es zur anderen Seite geschafft, als ihm einfiel, dass er überhaupt nicht wusste, in welchem Zimmer Ylaine sich befand. Hastig sprang er auf, stieß zunächst mit dem Kopf gegen den Tresen und taumelte fluchend zurück. Die Frau war ebenfalls schon auf den Beinen, die Augen weit aufgerissen, die Zeitung wie einen Schild vor sich ausgestreckt. „Müssen Sie mich so erschrecken? Das hier ist ein Krankenhaus und nicht Euer dämlicher Abenteuerspielplatz. Die Leute hier können keine Geschichten gebrauchen, sie brauchen Ruhe! Also reißen Sie sich zusammen, sonst sitzen Sie ganz schnell draußen", wetterte sie, während sie langsam zurück auf ihren Stuhl sank.
Schwer beeindruckt versuchte Ronen möglichst friedfertig zu wirken und entschuldigte sich kleinlaut. „Könnten Sie mir sagen, wo ich Ylaine finde?", erkundigte er sich. „Tja Schatz, die liegt im zweiten Stock auf Zimmer 14. Allerdings wird sie streng bewacht und ich bezweifle, dass Sie sie besuchen dürfen."
„Vielen Dank."
Mit einer angedeuteten Verbeugung huschte Ronen zu den Aufzügen, überlegte es sich jedoch anders. Es war leiser und unauffälliger die Treppe zu nehmen als sich in einen Lift zu stellen, der außerhalb der Besuchszeit – genau genommen mitten in der Nacht – einen Besucher ausgerechnet auf einer bewachten Station ausspuckte. Er lauschte geschlagene 10 Minuten, bevor er die Türe öffnete. Keinen Zentimeter bewegte er sich, ohne nicht jeden Winkel mit einem Taschenspiegel untersucht zu haben. Endlich kam der Wachmann vor Tür Nummer 14 in Sichtweite. Das Zimmer lag am Ende des Ganges auf der Fensterseite.
Vor Schritt 2 (Auftrag ausführen) und 3 (Flüchten) hatte irgendein Spaßverderber überflüssigerweise Schritt 1 (Am bissigen Türsteher vorbeikommen) gesetzt. Mit „Platz!" oder „Hol das Stöckchen!" war es leider nicht immer getan. Gedankenverloren hockte Ronen hinter der Ecke und kaute auf seiner Unterlippe. Da ihm spontan nichts einfiel, verstreute er den Inhalt seines Lederbeutels auf den Fliesen. Ein Jonglierball, den Ylaine bei ihrem Aufbruch in Faustens Hütte vergessen hatte. In einer Welt, in der richtige Waffen verboten, aber prinzipiell alles (außer Mord und Folter) erlaubt war, musste man kreativ werden.
Aus diesem Grund waren Ylaines selbstgenähte Bälle nicht nur mit Graupen gefüllt. Dies war eines der besonderen Exemplare. Vorsichtshalber fischte Ronen ein Tuch aus seinem Fundus, das er sich vor den Mund band. Dann stand er langsam auf, zielte und warf mit voller Wucht. Der Ball schoss am Kopf des Wachmanns vorbei und prallte auf die Wand, an der selbiger gerade lehnte. Als die Nähte platzten, reagierte irgendein Stoff mit der Luft. Was der Polizist kurz darauf einatmete, brachte ihn zum Gähnen. Alarmiert schaute er sich nach dem Angreifer um, zog dabei seine Waffe. Sie glitt ihm jedoch aus der Hand, während er langsam nach seinem Stuhl tastete, erschöpft seinen Hintern platzierte und innerhalb der nächsten Sekunden so fest schlief wie ein Bärenjunges im Winter.
Ronen trat aus seinem Versteck hervor. Der Flur lag nun unbewacht im kühlen Licht der Deckenlampen. Nur noch die Türe trennte ihn vom Raum Nummer 14. Auf leises Klopfen reagierte niemand. Trotzdem drückte er die Klinke herunter und schlüpfte ins Zimmer. Durch die zugezogenen Vorhänge drangen fahle Mondstrahlen. Erleichtert stellte Ronen fest, dass Ylaine offenbar nicht an irgendwelchen Apparaten hing. Stattdessen lag sie in ihrem Bett und ein leises Schnarchen kündete von seligen Träumen.
„Ylaine", flüsterte Ronen und knuffte sie vorsichtig am Arm.
„Du bist 's, oder?", flüsterte sie nach einer Weile und blinzelte. So blass hatte er sie noch nie erlebt. Bei dem Versuch sich aufzurichten kam sie bereits außer Atem. Ronen schwieg betroffen.
„Damit hast du nicht gerechnet", flüsterte sie und lächelte niedergeschlagen.
„Ich übrigens auch nicht. Ich wäre meinen Verletzungen erlegen, hätte sich Fausten nicht gekümmert. Die Flucht hätte mir fast den Rest gegeben und jetzt stehst du hier mit dem Auftrag mich zur Sekretärin zu bringen, nicht wahr?"
Ronen schluckte. Eine kurze Weile starrten sie aneinander vorbei und beobachteten, wie der Mondstrahl auf Ylaines Bettdecke langsam weiterwanderte. „Das ist unsere Chance dem Ganzen ein Ende zu setzen", fuhr sie fort. Sie schob das Laken beiseite, rutschte quälend langsam zur Bettkante. Sie trug immer noch die schlichte Reisekleidung des Mittelaltervolkes. Durch den aufgeschnittenen Stoff schimmerten weiße Verbände am rechten Oberarm und dem linken Unterschenkel.
Ronen konnte es nicht mitansehen. „Ich fürchte die Sekretärin wird warten müssen", bestimmte er und wollte sie sanft zurückschieben, doch Ylaine hatte bereits den Fuß des gesunden Beins auf den Boden gesetzt. „Dahinten steht eine Krücke", keuchte sie, „gib sie mir!"
„Kommt nicht infrage!" In Ronens Kopf rasten die Gedanken. Der Wachmann würde nicht ewig schlafen und die Dame an der Rezeption würde bestimmt nicht beide Augen feste zudrücken. „Es gibt doch bestimmt einen Dienstbotenausgang", murmelte er.
„Du willst den alten Trick mit dem Wäschewagen versuchen?", fragte Ylaine, „Von mir aus!"
Wie sie es genau rausgeschafft haben, wussten beide nicht mehr zu sagen. Mit dem Wäschewagen ratterten sie über die Gehwege bis zu den hängenden Gärten. Auch hier gab es praktischerweise Aufzüge und Ronen besaß natürlich, wie es sich für einen "Agenten" der Sekretärin gehörte, den passenden Code.
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Federlesen
AdventureEine Insel, auf der Geschichten erlebt werden. Doch ein Schatten legt sich über das Idyll, als jemand Protagonisten umbringt. Ausgerechnet die unerfahrene Erzählerin Ylaine soll die Verbrechen aufklären. Begleitet wird sie von einem weltoffenem Prie...