Geister der Vergangenheit

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Behutsam kletterten sie nacheinander in das schaukelnde Boot. „Na dann, Petri heil", grummelte Renoir, der als Letzter einstieg und sich nun mit aller Kraft gegen die Stange stemmte, mit der die Nussschale gesteuert wurde. Hier tauchten keine Wassermenschen feixend zwischen den Wellen auf. Sie hielten auf einen breiten Steg zu, der unmittelbar vor einem Höhleneingang endete. Aus dem Fels gehauen, starrten den Besuchern mit geifernden Fängen zwei Hunde mit drei Köpfen entgegen. In ihre Augenhöhlen waren rote Steine eingelassen, die Sonnenstrahlen zurückwarfen und den Bestien das Trugbild von Lebendigkeit verliehen. Zögerlich schoben sich die Reisenden an den Torwächtern vorbei, hinein in ein kühles Zwielicht.

Vor einem verschlossenen Holztor blieben sie gezwungenermaßen stehen. Sie konnten kaum etwas erkennen. Und dann wurde es licht. Sie waren sich sicher, dass niemand außer ihnen die Höhle betreten hatte, weder durch das haushohe Portal, noch durch den Eingang hinter ihnen. Trotzdem brannten Fackeln in Halterungen neben der Tür, an deren Fuß sich ein Fensterchen öffnete. Geschlossen rückten sie näher heran, je eine Hand immer noch in ihren Taschen verborgen. „Wer da?", rief Renoir forsch, beugte sein langes Kreuz krumm, um die Öffnung näher betrachten zu können. Er erkannte weißes Tuch, bevor eine schnarrende Stimme ihn aufforderte beiseite zu treten. Von der einen Sekunde auf die andere entrollte sich am Höhleneingang ein dicker Vorhang. Ein Lichtstrahl fiel aus dem Fenster darauf und offenbarte tanzende Schemen. „Ein Schattenspiel, wie kindisch", schnaubte Nigel, kam aber nicht umhin der Aufführung seine Aufmerksamkeit zu schenken.

Sie konnten nicht sagen, ob es die gleiche Stimme wie zuvor war, die nun eine Geschichte zum Besten gab. Sie zeigte plötzlich so viele Facetten. Je nach Szene flüsterte sie feenzart, verkündete volltönend, bezirzte, beschrie, besang und beklagte, als stünde ein ganzes Heer hinter dem Holz.

Lange Zeit schon irrten die Toten ohne Heimat umher. Getrieben, zum Spuk verdammt oder noch schlimmer: unsichtbar ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie sahen zu, wie die Liebsten um ihretwillen Tränen vergossen, sauer wie brackig Wasser und doch so voller Hingabe. Ein Held, gefallen um ein gestorbenes Dorf zu verteidigen, kam nicht zur Ruhe – ja, durfte es nicht! Eine blaue Flamme, gelöscht von ihresgleichen... Sie alle werden vergebens nach dem versprochenen Ort suchen, wenn sie suchen, die ungläubigen Seelen."

„Du wagst es?!" Fausten wirbelte herum, rauschte auf die Türe zu, verharrte vom Donner gerührt. Ein weiteres Fenster hatte sich geöffnet. Metall blitzte hervor. „Schweig und lausche!", befahl die Stimme hinter dem Portal und setzte unverfroren die Erzählung fort.

Doch ihr, deren Seelen noch auf Erlösung hoffen dürft... Du, vor allen anderen, die die erste Chance ausschlug in ihrer jungen unschuldigen Unwissenheit... Aber auch du, der noch zu büßen hat... Hört, was dieser Ort bedeutet, was er war, was er ist, was er wird!"

„Na wunderbar, der Plagegeist kann die Zeitformen korrekt aufsagen, bravo!", höhnte Ylaine. Ein Knall, der kurz neben ihr einschlug, verschlug ihr die Sprache. „Keine Unterbrechungen!"

Es waren einmal zwei Jungen voll Vertrauen auf den lieben Gott. Sie verschrieben sich ihm mit Haut und Haar, mit Leib und Seele. So machte er, dass sich die Wege dieser beiden kreuzten und sie miteinander unzählige frohe Tage verlebten, gemeinsam Wissen sammelten und unzertrennlich alles nur noch miteinander unternahmen. Doch je erwachsener sie wurden, desto mehr spürte der eine, dass nach dem anderen sich die Schlange, die Muhme des Teufels, die Verführerin der Eva und des Adam ausstreckte und ihre giftigen Windungen um ihn zu legen begann."

Ein Schnauben drang aus Renoirs Richtung, doch er wagte keine weitere Störung.

Es kam der Tag, da er auszog die Heilkunst, das Knochenrichten und all das zu erlernen, wovon man glaubte, es sei zum Wohle der Menschheit. Und er ging alleine. Ließ den Freund mit schwerem Herzen zurück. Voller Inbrunst betete der Daheimgebliebene für ihn, dass er immer auf dem rechten Pfad wandeln möge. Und wenige Jahre später wurde sein Bitten erhört und die beiden waren wieder vereint.

Doch etwas hatte sich eingeschlichen und es war, als verderbe die Reinheit des Heimkehrers. Aber der Freund wollte das Band nicht aufs Spiel setzen und so empfingen beide die Priesterweihe. Während der eine seinen geistlichen Aufgaben mit ganzem Herzen folgte, wurde der andere immer wieder gerufen Gebrechen zu heilen. Den merkwürdigsten Gestalten war er zu Hilfe und irgendwann lud er sie in den Schoß der heiligen Mauern ein. Nur er war es, der den Sonderlingen die Beichte abnahm, nur er, den sie mit allerlei betrauten. Und wie sie verschlossen waren, so wurde auch er verschlossen seinem Freund gegenüber.

Wieder verschwand er für Wochen. Wieder betete der Freund, doch diesmal konnte er keinen Frieden in seinen Fürbitten finden. Als er nun den Heimkehrer erneut willkommen hieß, trug jener neben dem Kreuz ein weiteres Symbol. Er schwieg und lächelte, als man ihn danach fragte.

Dann, in einer Nacht, schlich er hinaus aus dem Schlafsaal. Der Freund voll banger Sorge folgte ihm. Nie hatte er deutlicher das Unheilige gespürt, als sein Freund im Garten der Abtei auf einen finsteren Gast traf. Die weiblichen Rundungen schienen ihn aufzuwühlen. Eine Locke blitzte unter der Kapuze hervor, als die Viper ihm ihren giftigen Kuss auf seine Wange brannte.

Da wusste der Andere, und es zerriss ihm das Herz, dass sein Freund verloren war an den Feind. Kein Wort wechselte er mehr mit ihm und tat das einzig Richtige. Tagelang betete er in seiner Kammer, doch keine Antwort, keine Eingebung stellte sich ein. Und so trat er vor die gesamte Abtei und tat, was sein musste -"

Nun platzte es doch aus Renoir heraus: „Pah! Er wollte uns verbrennen, dieser Wahnsinnige! Von wegen freundschaftliche Sorge. Er hat alles in den falschen Hals gekriegt. Hätte er einfach nachgefragt -"

„SCHWEIG! Doch selbst die ehrwürdigsten unter den Brüdern schienen mit Blindheit geschlagen und verwehrten die Bitte. Und in diesem Augenblick, da er verlassen und verraten ihnen den Rücken kehrte, wurde ihm klar, was seine Aufgabe war: Nichts hehres als der Menschheit die Augen zu öffnen, nichts nobleres, als die Unschuldigen zu retten und ins Paradies zu führen!"

Das Schattenspiel verschwand von den Wänden. Mit einem Knall schlossen sich die beiden Fenster und ein Torflügel öffnete sich knarrend. „Also bei meinem letzten Besuch", ließ sich Mephisto vernehmen, „war das Ambiente noch ein ganz anderes. Er hat den Erbauer wohl tatsächlich umgebracht."

Hinter der Tür wartete eine Schleiergestalt, vermutlich eine Todesfee. Behangen wie das Wesen war, konnte niemand sagen, ob es sich um Mann oder Frau, kleingeratenen Erwachsenen oder großes Kind handelte. Wortlos schritt es durch den breiten, fackelbeleuchteten Gang und winkte der Gruppe. Sie sollten folgen. Renoir ging voran, fest entschlossen und überaus zornig. Nach einigen Kurven öffnete sich der Tunnel in eine unterirdische Halle. Ein Seitenarm des Shoshis oo floss zügig hindurch, beengt von den Felsen, die ihm die Richtung vorgaben. Das Wasser prallte von ihnen ab, wurde zurückgeworfen und sein aufgebrachtes Rauschen hallte vielstimmig durch den Raum. Im Zwielicht konnten sie kaum sehen, wer sich sonst noch hier befand.


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