Bevor etwas anderes geschehen konnte, noch während einer der Schatten so sprach, schnellten sowohl Ronen als auch Nigel aus ihren Schlupfwinkeln, starteten einen kurzen Angriff, um anschließend mit einem unterdrückten Schrei zu Boden zu gehen, während ihre Waffenarme schmerzhaft auf den Rücken gepresst wurden. Betont langsam erhob sich nun Renoir und deutete eine Verbeugung an. „Ich muss zugeben, diese Art von Hilfe hatte ich nicht im Sinne, als ich die Piraten über unsere missliche Lage informierte. Sei 's drum, ich mag meinen Kameraden nicht ihren Umgang vorwerfen, wenn er uns nun zur Rettung kommt."
„Ihr redet nicht etwa von den Wong, die das Teeimperium führen?", erkundigte sich Ylaine, die ebenfalls hinter den Kisten hervor humpelte.
„Genau jene. Und nun kommt. Wir werden den Ballon nicht lange verteidigen können, ohne dass es zu Unfällen kommt."
Die Versteckten versammelten sich in der Mitte des Raumes und ließen sich – in Ermangelung sinnvoller Alternativen – von den Schatten in den Eingangsbereich des Hauses führen. Zuerst sahen sie das Paar, welches wie versteinert aus der Couch saß, zu ihren Füßen ein Kind, das mitten im Spiel die Bauklötze fallen gelassen hatte und nun die merkwürdige Prozession anstarrte. Die unbekannten Helfer verrieten auch im Tageslicht nichts von ihrer Identität. Sie steckten in Anzügen, die man von Ninjas aus Kung-Fu-Filmen kennt, inklusive der tuchverhangenen Gesichter.
„Entschuldigen Sie noch einmal die Störung. Machen Sie weiter wie vorher. Sie haben nichts gesehen!", flüsterte ein Retter, winkte einem anderen zu, der sich vor der Eingangstür postierte und vorsichtig einen Blick hinaus warf, bevor er mit einem weiteren Handzeichen den Weg freigab. Nigel und Ronen wurden aus dem Polizeigriff entlassen. Der Amerikaner nahm die immer noch gehandicapte Ylaine Huckepack. So rannten sie alle los, abgeschirmt von der Spezialeinheit, ohne nach rechts oder links zu blicken. Erst als sie im Korb standen, wurde ihnen bewusst, dass diese Verrückten tatsächlich einen Heißluftballon auf der engen Wallstraße gelandet hatten. Fausten gab Gretchen und Mephisto ein Kommando. Die beiden Hunde zischten sofort durch die Vielzahl an Beinen hindurch. „In den Wäldern sind sie besser aufgehoben"; erklärte Henrike knapp und kletterte zu den anderen in den Korb. Während sie sich gemächlich in die Luft erhoben, ertönten Schüsse. Dem Glück und dem geschickten Einsatz von Steinschleudern verdankten sie ihr Entkommen.
Während die heiße Luft den Ballon stetig aufsteigen ließ, offenbarte sich eine neue Größe im epianischen Spiel. Nahe Lanluen, wo sich ein Seitenarm des Shoshis oo fein verzweigte und eine Gegend formte, welche den chinesischen Reisfeldern nicht unähnlich war, lag deren Zentrum. Auch eine Kleinstadt hatte sich dort angesiedelt, in deren Reichweite die im asiatischen Teil der realen Welt zur Berühmtheit gewordene Familien-Saga des Wong-Imperiums spielte. Dorthin, so erklärte einer der Ninjas, wären sie nun unterwegs. In Decken eingehüllt überließen die Flüchtlinge den Rettern die Führung. „Woher kamen die so plötzlich?", flüsterte Nigel. Gewohnheitsgemäß hob Ronen zu einem bewährten „Halt-die-Klappe" an, doch Renoirs kratzige Stimme kam zuvor.
„Ich habe einen alten Freund von mir angerufen. Auch wenn es ungewöhnlich ist für unsere, nennen wir sie der Einfachheit halber Rollen, verfügen manche über Mobiltelefone. Ich sendete eine kurze Nachricht mit der Bitte um Rettung und erwartete, dass er ein paar Nixen schickt, die uns durch die Kanalisation rausholen."
„Dieser Freund segelt nicht zufällig unter einer Piratenflagge mit Atom-und-Feder-Motiv?", hakte Ylaine nach. Solch ein bissiger Unterton entsprach normalerweise nicht ihrer Art mit epianischen Mitbürgern und Freunden umzugehen.
„Zufällig doch. Gibt es ein Problem?"
„Der Kerl und seine Crew haben einen Menschen an den Schiffsbug gefesselt und ersaufen lassen", ereiferte sich Nigel. Verwundert blickte die kleine Gruppe den Amerikaner an. „Und ausgerechnet dir macht das was aus?", zischte Ronen.
Renoir sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. „Nun ja, dass er ein Hitzkopf ist, war mir durchaus bewusst, aber solche Methoden... Andererseits muss es einen triftigen Grund für sein Handeln geben." Auf die Frage, wer genau die Retter nun waren, antwortete Stille. Ylaine erinnerte sich an die gefühlt unendlich lang zurückliegende Schulzeit, während derer sie zwei jüngere Vertreter der Wongs kennengelernt hatte und an den unübersehbaren Clan, welcher ebendiese bei der Abschlussveranstaltung in seine lächelnde, nichts preisgebende Mitte aufnahm. Sie schaute Ronen an, der doch sicherlich schon durch diplomatische Beziehungen oder Empfänge mit der Familie in Berührung gekommen sein musste.
„Nichts Genaues weiß man nicht
Wir haben schon genug am Hals
Also ist's nicht uns're Pflicht
zu fragen welcher Hals da bricht."
„Sehr witzig, Mephisto! Man kann nun mal nicht überall zugleich sein und bei uns sind auch keine schwerwiegenden Beschwerden eingetroffen. Außerdem hatten wir alle Hände voll zu tun, um den Morderzählern auf die Spur zu kommen", verteidigte Ronen die anscheinende Nachlässigkeit der Verwaltung.
Die Landschaft zog stetig unter ihnen her, während sie über Erfolg, Misserfolg und allerlei Möglichkeiten diskutierten, wie Telling und seine Bande aufzuhalten seien. Unzählige Male rekonstruierten sie die Morde. „Es passt nicht, es passt einfach nicht", fluchte Renoir immer wieder. Henrike starrte teilnahmslos in die Gasflamme des Ballons. „Was ist", fragte Ylaine zögerlich, „wenn es verschiedene Motive und Drahtzieher gibt?" Mühsam bastelte sie das Gespräch mit dem falschen Inquisitor zusammen: „Telling ist ein Gespenst. Er ist das Geld, das ich brauch... so ähnlich hat er sich ausgedrückt."
„Ein schlauer Einwand
und teuflisch gerissen, dieser Hund
Sind es noch gehängte Banditen,
in unsren Gefilden unbekannt
ist's Massenmord zur andern Stund..."
Ronen spann den Gedanken weiter: „Auch Majorana mag noch Opfer des ersten Tellings sein, da sie ihm auf die Schliche zu kommen drohte. Die Toten bis zu einem gewissen Zeitpunkt sind tatsächlich im Ausland verurteilte Verbrecher, wie zuverlässige Quellen berichten. Aber das Massaker, das dieser Tashar verübte, passt gar nicht ins Schema."
Henrike Faust war mit einem Mal auf den Beinen. Der Ballon schaukelte gefährlich. Mit einiger Mühe hielten die vermummten Retter sie zurück und den Korb in der Balance. „Du wagst es, Tashar die Schuld an den vertauschten Waffen zu geben, du kleiner Wichtigtuer?", fauchte sie Ronen an, die Augen blitzend nur wenige Zentimeter von dessen Gesicht entfernt. Ein wenig verwirrt legte der Sohn der Sekretärin die Stirn in Falten. „Daraus folgere ich, dass Sie die Komplizin sind", erklärte er. „Wer keinen Plan hat, sollte besser den Rand halten!"; knurrte diesmal Nigel, „Ich weiß zwar nicht, woher du deine Infos hast, aber sie sind falsch. Wir waren bei ihnen und sie haben verdammt noch eins nichts mit diesen mordenden Psychopathen zu schaffen!"
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Federlesen
AvventuraEine Insel, auf der Geschichten erlebt werden. Doch ein Schatten legt sich über das Idyll, als jemand Protagonisten umbringt. Ausgerechnet die unerfahrene Erzählerin Ylaine soll die Verbrechen aufklären. Begleitet wird sie von einem weltoffenem Prie...