Unter Gauklern

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Zeit verging. Sie wusste nicht ob es Minuten, Stunden oder gar nur Sekunden waren, aber allmählich wurde der Wagen langsamer. Schließlich flammte vor ihr ein Licht auf und die Fahrt endete an einem Bahnhof, der dem ersten aufs Detail ähnlich sah. Sogar das verlassene Kassenhäuschen kauerte an einer der Höhlenwände. Schatten zitterten in dunklen Ecken und schon glaubte man, nicht alleine im Schummerlicht zu sein. Mit einem merkwürdigen Klirren verabschiedete sich ausgerechnet in diesem Augenblick die Glühbirne und es wurde endgültig finster. Ylaine blieb keine Wahl. Sie musste sich an den Wänden entlang tasten und hoffen, dass diese Station wirklich eine exakte Kopie der anderen war. Andererseits waren auch die Fratzen unsichtbar und sie konnte sich ganz in Ruhe auf ihre anderen Sinne konzentrieren. Es ging aufwärts. Eine Hand folgte der Wand und die andere erkundete ausgestreckt den Raum vor ihr. Kurze Zeit später stieß sie mit den Fingerspitzen auf Holz. Noch einen Schritt nach vorne, dann legte sie beide Handflächen auf das Hindernis. Sie bezweifelte, dass man einfach eine Klinke eingebaut hatte. Zu ihrer Überraschung fand sie doch eine.

Erleichtert drückte sie sie und schob die Türe vorsichtig auf. Licht drang ihr entgegen und blendete sie, bis die Augen sich ans Tageslicht gewöhnt hatten. Sie trat hinaus und verschloss den Eingang gewissenhaft. Schließlich wollte nicht ausgerechnet sie die Schuld daran tragen, dass das geheime Tunnelnetz aufflog.

Der Ausgang lag in einer kleinen Höhle, nicht viel mehr als ein breiter Riss im Fels. In der Nähe hörte man typische Waldgeräusche von Tieren und Bäumen, die im Wind ausgiebig raschelten. Ein Grollen ertönte direkt vor Ylaine. Die Achterbahn mündete offensichtlich in der Wohnung einer Bärenfamilie, die den Eindringling, der so plötzlich in ihrem Territorium auftauchte, argwöhnisch beäugte. Mitten unter ihnen hockten zwei Menschen mit verfilzten Haaren und einem ebenso bedrohlichem Gesichtsausdruck.

Ein besonders großes Bärenexemplar erhob sich. Selbst auf allen Vieren, war es bereits fast so groß wie sie, nun streifte der pelzige Kopf beinahe die Decke. Ylaine rührte sich keinen Millimeter und mahnte sich die Ruhe zu bewahren. Tiere konnten Angst wittern. Doch anscheinend roch Meister Petz noch mehr und kam wieder auf den Boden, um sie ausführlich zu beschnuppern. Da er offensichtlich nicht vorhatte sie umgehend zu töten, entspannte sie sich ein wenig und wartete ab, bis ihr Gegenüber die nasale Abtastung beendete und sich zurückzog. Die Gruppe machte den Weg frei, doch die Menschen behielten sie im Auge, gestikulierten grimmig, dass sie sich davonmachen sollte und zwar ein bisschen plötzlich.

Der Ausgang führte sie auf ein kleines Plateau, das einen guten Ausblick auf die Umgebung bot, die natürlich zum Großteil aus Wald bestand. Doch diese Bäume drängten sich zusammen, ließen kaum einen Lichtstrahl in ihre Mitte, sodass unter ihnen alles tot schien. Halb verdeckt hinter einem Hügel schauten Dächer hervor. Es war noch ein guter Tagesmarsch, der jedoch leicht zu bewältigen sein sollte, zumal sich ein breiter, staubiger Weg dorthin wand. Selbst er sah aus, als wolle er im nächsten Moment aufspringen und flüchten.

„Alles Einbildung", ermahnte Ylaine sich kopfschüttelnd und sprang leichtfüßig die felsige Anhöhe hinab. Schon wenige Minuten später stieß sie auf den Weg und stellte fest, dass sie nicht die einzige war, die einen Dorfbesuch im Sinn hatte. Hinter ihr näherte sich eine Truppe fahrender Spielleute, typisch für solche Gegenden. Vorne weg trabte ein Ochse mit Karren, auf dem die Wandernden ihr Habe deponiert hatten. Sie schauten kritisch in alle Richtungen, als wäre ihnen etwas nicht recht geheuer. Der Erste sah die Gauklerin mit dem langen orangen Zopf, die wie eine Statue am Rand stand, noch halb verborgen von Gestrüpp. Er wies mit dem Finger auf sie, stupste die anderen an, die mit den Händen nach Waffen tasteten, welche gut verborgen unter Wämsern und Kitteln schlummerten.

Ylaine bemerkte die Anspannung und löste sich aus ihrer Starre, trat betont langsam hervor, Hände gut sichtbar in die Hüfte gestemmt und mit einem schüchternen Lächeln. „Entschuldigt, gute Leute!", rief sie von weitem, bis auch der letzte bemerkte, dass dies kein heimtückischer Anschleichversuch war. „Ich bin wohl irgendwo in die falsche Richtung gelaufen, wärt Ihr – falls es euch passt – so freundlich und würdet mich ein Stück mitnehmen. Dann kann ich im nächsten Dorf meine Reise wieder aufnehmen."

Man schaute, brummte, zuckte mit den Schultern, nickte, schüttelte den Kopf und wusste im Allgemeinen nicht, was man davon halten sollte. „Kannst du 's dir verdienen?", fragte eine zahnlose Alte, die wohl blind war. „Nun, ich jongliere und verstehe mich auf einige Tricks und Turnereien", erwiderte sie.

Neben der Frau saß ein Mann, der das Wort ergriff: „Vielleicht können wir dich in unsere Nummer einspannen. Wir ham Gerüchte über ein ganz geheimes Ding drüben im Dorf gehört. Soll was Großes werden. Sind schon vielem Volks begegnet, dem ich nicht für mein Gewicht in Gold den Rücken zudrehen würde. Alle in die Richtung, viele neugierig und einige verstohlen. Aber was soll 's, wenn einem der Magen knurrt. Vielleicht können wir was abgreifen."

„Nun mach nicht so einen Wind, Bursche! Und macht hinne. Sonst überholen uns sogar die Jahreszeiten."

„Das ist Granny Gray. Mach dir nichts aus ihrem Geplapper. Ich bin Groff. Geh zu den Feuerspuckern und frag, wie du dich nützlich machen kannst." Ylaine nickte, knickste noch einmal höflich und ließ sich ein wenig zurückfallen. Eine Gruppe Rotgewandeter diskutierte heftig, während sie versuchte im Gehen eine Pyramide zu bilden. „Wackle nicht so da oben, Totsi!", brüllte ein Feuerspucker, der sich abmühte einen Feuerring direkt vor der Angesprochenen in die Luft zu blasen. „Das funktioniert so nicht", grollte ein anderer. Er kickte einen Stein beiseite, der Ylaine direkt vor die Füße rollte.

Augenblicklich löste sich das schwankende Gebilde auf. Man scharrte sich um sie, alte und junge Gesichter gleichermaßen. Manche waren verrußt oder trugen blasse Brandnarben zur Schau. „Vielleicht", schlug sie mit zurückhaltendem Tonfall vor, „könnte sie durch einen Kreis aus brennenden Bällen springen. Ich jongliere und wenn ihr einen Kniff wüsstet, dass ich mir dabei nicht die Pfoten verbrenne, könnte es gehen." Ein Hüne, der das Fundament der Pyramide gebildet hatte klopfte ihr jovial auf die Schulter. Prustend stolperte sie nach vorne. Ihr Pferdeschwanz peitschte der Artistin ins Gesicht, die zuvor auf der Spitze gethront hatte. „Mach's mit brennenden Messern und du bist dabei", schnarrte sie gehässig und strich sich mit hochnäsiger Geste eine Strähne hinters Ohr.

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