Der Weg zum Pa-Ten

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„Wie bitte, warum hast du nichts gesagt, Ylaine? Am Telefon, meine ich..." Ronen stotterte perplex, hin und hergerissen zwischen dem, was aus den Berichten hervorging, welche seine Mutter tagtäglich aus allen Regionen erreichten und dem, was aus den Reaktionen seiner Begleiter zu schließen war. „Das liegt daran", erklärte Faust mit hämischer Herablassung, „dass sie nicht wusste, ob sie dir vertrauen kann." Ronen öffnete den Mund zum Protest, doch sie würgte ihn mit einer barschen Handbewegung ab.

„Sie hat gespürt, dass etwas faul war und da ist sie nicht alleine. Deine Mutter steckt in der Sache drin. Wir wissen zwar nicht genau wie, aber seit sie die Ermittlungen unterstützt, schaffen es die Morderzähler, sich immer wieder auf beinahe magische Weise unseren Häschern zu entziehen, während gleichzeitig diejenigen, die am härtesten an der Aufklärung arbeiten in Kirchen eingesperrt werden oder während einer Verfolgung hinterrücks k.o. geschlagen und ausgerechnet vom Sohn besagter Sekretärin gefunden werden, der angeblich in einem ganz anderen Teil der Waldgebiete ganz anderen Geschäften nachgehen wollte."

„Sie werfen mir doch nicht etwa vor Ylaine niedergeschlagen zu haben, damit einer dieser Verbrecher fliehen konnte?"

„Du wusstet in welchem Raum Ylaine eingesperrt war."

„Das ist lächerlich! Wie hätte ich Tellings Leute informieren sollen?"

Einer der Ninjas wirbelte herum, während die anderen weiter auf eine Kleinstadt inmitten von Feldern zusteuerten und den Ballon langsam sinken ließen. Er packte Ronen grob und tastete ihn ab, fand jedoch nichts. „Ihr vermutet also Wanzen?", fragte Ylaine. Ein Gedanke schlich sich ins Bewusstsein. Ihr Blick wanderte zum linken Bein, wo unter der Hose weißer Verband hervorlugte. „Ronen, weißt du, ob meine Verbände gewechselt wurden, während wir bei der Sekretärin waren? Ich hab ziemlich tief geschlafen. Möglicherweise habe ich es gar nicht mitbekommen."

Er zuckte mit der Schulter und der Ninja begann vorsichtig den bandagierten Unterschenkel abzutasten. Es dauerte nur Sekunden bis er einen kleinen, flachen Sender in der Hand hielt. Ohne großes Aufhebens fischte er aus irgendeiner Kiste einen Luftballon, füllte ihn an der Reservegasflasche, band den Sender dran und überließ ihn dem Wind. Eine Weile schauten die Passagiere dem unbemannten Luftfahrtkommando nach. „Aber wie konnten sie mich vorher orten?", nuschelte Ylaine, die verträumt dem winzigen Punkt hinterherblickte. Sie drehte den Kopf, wirkte dabei wie ein hypnotisierter Hase. „Das Handy..." Mehr war aus Ronen nicht mehr herauszubekommen.

Sie befanden sich im Landeanflug auf die Ortschaft. Ein Ninja verwies auf die extravagante Aufteilung, die nur aus der Luft erkennbar war. Als sie sich direkt darüber befanden und langsam tiefer gingen, erhob sich sogar Henrike Faust. Der Ort lag als perfekter Kreis in der Landschaft. Kein Gebäude ragte zu weit über die imaginäre Grenze hinaus. Zwischen den Dächern sah man kaum die Wege, mit Ausnahme einer Hauptstraße, die sich in einer eleganten S-Form durch die Mitte schlängelte und die Ansammlung in zwei Hälften teilte. Die von Süden betrachtet linke Seite wurde dominiert von Bogendächern alten Stils. In der rechten dagegen tummelten sich moderne Hochhäuser aus Beton, Stahl und Glas. Wenn man jedoch diese verblüffende Trennung genauer begutachtete, bemerkte man plötzlich, dass diese strikte Anordnung unterbrochen wurde. Auf beiden Seiten, dort wo – bedingt durch die besondere Form der Hauptstraße – sich die beiden Stadtteile am weitesten ausbreiteten, fand man in deren exakten Zentren ein Gebäude der jeweils anderen Gattung. Es wirkte ganz so, als hätte jemand so zum Spaß die beiden Häuser ihre Plätze tauschen lassen.

„Die beiden deplatziert wirkenden Häuser gehören der ehrenwerten Familie Wong. Sie besitzen natürlich noch andere Gebäude, aber in diesen speziellen befinden sich Wohn- und Geschäftsräume", erläuterte einer der Maskierten, „Allerdings werdet Ihr, verehrte Gäste, auf dem Landsitz empfangen.

Mit einem sanften Stoß setzte der Korb schließlich auf. Sie befanden sich auf einem geebneten Platz, von dem ein schmaler Pfad zunächst an der Stadtgrenze entlang und dann nach Osten zu einer Parkanlage führte, in der vermutlich das Haus lag, in dem man die Flüchtlinge erwartete. Sie wurden zu Rikschas geführt, die am Rande warteten. Es waren derer vier mit ebenso vielen Menschen, die gleich in die Pedalen treten würden, um ihre Passagiere an den Bestimmungsort zu bringen. „Wow, die sehen ja alle gleich aus. Wurden die geklont? Sind das Männer oder Frauen?", fragte Nigel und begutachtete schamlos die markanten Stellen, die jedoch unter den gleich aussehenden weiten Gewändern unsichtbar blieben. Die großen Strohhüte verdeckten einen Großteil der Gesichter. Faust und Mephisto, Renoir und Ylaine, Ronen und Nigel bestiegen je eine Kutsche Renoir trug Ylaine ohne sie zu fragen auf Händen. Man sah sowohl Ronen als auch Nigel an, dass sie die Aufgabe liebend gerne übernommen hätten. Die Ninjas quetschten sich zusammen auf die verbliebene Rikscha und gaben das Zeichen zum Aufbruch.

Der Weg zum Anwesen war nicht mehr als ein Trampelpfad. Kein Baum störte die Sicht. Man sah und wurde gesehen. Der Konvoi passierte zwei Menschen, die an einem niedrigen Tisch auf Kissen saßen und eine Runde chinesisches Schach spielten. Die beiden nahmen ausdrücklich keine Notiz von den Reisenden. Zwischen den Feldern erhaschte man den Blick auf kleine Hütten, die wohl Wanderern oder Arbeitern als Unterkunft dienten. Auch die Mauern des Landsitzes schoben sich recht bald ins Blickfeld. Wenige Meter bevor der Pfad in ein kunstvoll geschmiedetes Tor mündete, erschütterten dutzende Hufpaare den Boden. Von Norden näherte sich eine riesige Staubwolke. Hastig zogen die Rikschafahrer ihre Fahrzeuge weiter, kamen jedoch nicht schnell genug weg. Eine Herde brüllender und schubsender Büffel, einige davon mit Reitern, preschte an ihnen vorbei, zwischen den Wagen hindurch. Staubspuckend starrten die Reisenden der Herde hinterher. Offenbar war niemandem etwas passiert.

Vor ihnen schwang das Tor auf. Die Mauer, die um das Anwesen errichtet worden war, wirkte verlassen. Unwillkürlich fragte man sich, ob hier irgendjemand Wache stand. Die Gäste wurden gebeten die Fahrzeuge zu verlassen. Für Ylaine standen zwei Träger bereit, warteten geduldig darauf, dass sie sich auf der Sänfte platzierte. Doch sie biss die Zähne zusammen und ignorierte sie. Ihre Begleiter schlossen sich kommentarlos an. So watschelten sie hinter der Erzählerin her, die trotzig den Kopf empor reckte, als sie den Kiesweg entlanghumpelte. Jemand eilte ihnen entgegen und überreichte ihr mit einer tiefen Verbeugung einen Gehstock.

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