Die Audienz

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Der Morgen war bereits angebrochen. Nigel hockte gerade imHalbschlaf auf einem Baumstumpf, als plötzlich der Boden nebenan erzitterte und nachgab. Stürzte jetzt etwa diese verdammte Konstruktion ein? Es öffnete sich lediglich ein etwa mannslanges Quadrat und ein weiteres undefinierbares Objekt stieg empor. In einem Wäschekorb saß Ylaine, die mit einer Hand eine Krücke umklammerte. Ronen schob sie auf festen Boden und die Plattform machte sich auf den Rückweg nach unten. Das Loch schloss sich wieder.

„Halt hier nicht Maulaffen feil, sondern hilf mir, sie rauszuheben!", meckerte er. Schließlich stand sie etwas wackelig und verschwitzt auf einem Bein. „Wie soll sie in dem Zustand den Weg bis zu eurem albernen Rathaus schaffen?", wollte Nigel wissen. Urplötzlich schrillte eine Klingel direkt hinter ihm. Er wirbelte panisch herum, stolperte zurück. Sein Puls schoss in die Höhe. Sein Herz rutschte in die Hose. Auf einem Pfad wartete ein lächelnder Mann, der die Tür einer Rikscha offen hielt.

„Wir nehmen den Drachenexpress, zufrieden?", neckte Ylaine und grinste breit. Den Vorfall im Dorf schien sie nicht weiter übel zu nehmen. Das machte ihn irgendwie wütend. Kein Vorwurf kam über ihre Lippen, kein finsterer Blick... Nigel kam sich umso schäbiger vor. Aber so war die Welt nun mal. Sie hatte die epianische Unterwelt - wie auch immer sich die Mafia hier nannte - herausgefordert und von wem erwartete sie Dank? Er hätte sich an ihrer Stelle aus der ganzen Sauerei raus gehalten... Ohren zu, Augen zu, so kam man durch und wer schwach war, konnte nicht mitgezogen werden. Der blieb liegen. Mühsam humpelte Ylaine zur Rikscha und verzog vor Schmerz das Gesicht, als sie mit ihrem Arm den Türrahmen streifte. Anschließend stiegen Ronen und Nigel ein, der Fahrer trat in die Pedale, damit sich das Gefährt gemächlich in Bewegung setzte. Die Morgensonne kroch träge über die Skyline und tauchte das Regierungsgebäude in warmes Licht. Menschen eilten geschäftig durch die Gegend.

Vor den hohen Türen, die den Eingang zum Gebäudekomplex bildeten, warteten Träger mit einer Sänfte. Fahrzeuge waren in diesem Areal verboten. Ylaine scherzte, dass ihr das als einfaches Gesinde doch gar nicht zustünde. Aber wieder straften ihre Augen, in denen sich Erschöpfung und unterdrückter Schmerz spiegelten, sie Lügen. Nervös fuhr sie über das verblassende Federabzeichen auf ihrem rechten Wangenknochen, das sie als neue Erzählerin auswies. Nach einem kurzen Fußmarsch durch den Innenhof erreichte das Trio das merkwürdige Regierungsgebäude. Davor erstreckte sich ein kleiner Teich. In der Mitte hatte man eine Insel aufgeschüttet, die vermutlich Epien darstellte. Bonsais und winzige Berge, sowie kleine Rinnsale markierten Gebirge, Wälder, Flüsse und Seen. Doch es gab noch mehr zu entdecken. Nigel konzentrierte sich auf die gläsernen Rundgänge und konnte mit großer Mühe Menschen erkennen. Absolut niemand schien in Erwägung zu ziehen, dass das Gebäude einstürzen könnte. Auch die Reiter, die teilweise auf Pferden, urtümlichen Drahteseln oder anderem Getier durch das gewaltige Haupttor geschleust wurden und dort ebenfalls ihre Fahrzeuge abstellen mussten, beachtete man nicht weiter. Schließlich erreichten sie den Eingang und er musste den Kopf in den Nacken legen um die Pforte überhaupt komplett erfassen zu können.

Sie trotteten hinter der Sänfte her an unzähligen Türen vorbei, bis sie einen Aufzug erreichten, der in die oberste Etage führte. Ab jetzt musste sogar Ylaine laufen. Stöhnend schob sie sich von der bequemen Unterlage hinunter. Ronen wich keinen Schritt von ihrer Seite und trug sie schon fast über den Korridor. Dies musste tatsächlich so etwas wie das Weiße Haus Epiens sein. Jeder, dessen Anwesenheit hier nicht unbedingt erforderlich war, musste draußen bleiben, so auch die Träger.

Auf der anderen Seite der Tür atmete Silvia tief durch und legte sich zum hundertsten Mal die Worte zurecht. Von diesem Nigel erwartete sie nicht viel Gegenwehr. Er würde sich mit einer großzügigen Abfindung und einer neuen Identität in einem Land seiner Wahl zufrieden geben. Schließlich hatte man ihn gegen seinen Willen nach Epien gebracht. Ronen konnte sie in dieser Hinsicht schlecht einschätzen. Er war genau wie Ylaine ein Kind dieser Welt. Die beiden glaubten an die Geschichten, sie kannten nichts anderes. Von Krieg und Zerstörung, Korruption und Machtgier hatten sie nie mehr gewusst, als die Geschichten berichteten. Im Kampf zu sterben bedeutete in Epien von einem Farbgewehr getroffen zu werden und unter der Häme des Gegners vom Platz huschen zu müssen. Der Tod betraf nur Alte, Kranke und bedauerliche Unfälle. Schritte ertönten, ein paar davon schleppend und unregelmäßig. Silvia platzierte sich hinter ihrem riesigen Mahagonischreibtisch, rückte noch einmal ihre Schreibutensilien zurecht und bemühte sich ihrer Rolle gerecht zu werden. Ylaine hatte sie als reservierte, gerechte und fordernde Lenkerin kennen gelernt.

„Herein!", rief sie mit belegter Stimme und tat, als studiere sie geschäftig irgendwelche Dokumente. Mit dem typischen Quietschen, das zu jeder Tür gehörte, die zu einem wichtigen Raum führte, wurde selbige geöffnet. Natürlich trat Ronen zuerst ein, zusammen mit Ylaine. Nigel trottete misstrauisch hinterher, immer auf der Hut und nach einem möglichen Fluchtweg Ausschau haltend. „Mutter, wie befohlen habe ich Ylaine und Nigel hergebracht", erklärte ihr Sohn, verbeugte sich hastig. Er war unsicher. Etwas nagte an ihm, er rang offensichtlich mit sich. An seiner Art sich zu verbeugen konnte Silvia immer erkennen, wie es ihm ging und diese Stimmung gefiel ihr gar nicht. Innerlich zählte sie bis zehn, bevor sie eine Reaktion zeigte. Erst dann hob sie den Kopf, um die Besucher kritisch in Augenschein zu nehmen.

„Ich denke, ihr kennt den Grund eurer Anwesenheit grob." Die Kunstpause geriet etwas zu lange. Schließlich machte Nigel den Mund auf: „Ich werde nicht zurück in die USA gehen. Vergessen Sie's!" Ein kühles Lächeln huschte über den Mund der Sekretärin. Theatralisch stöhnte sie auf, runzelte die Stirn und riss unvermittelt den Kopf hoch, um ihn mit einem starren Blick zu fixieren. „Sie sehnen sich also nicht nach Ihrer lieben Mutter, Mister Dalton?", fragte sie mit einem bestürzten Ton, der klang, als hätte sie selbigen höchstpersönlich von einer Klippe geworfen, damit er Nigel zerquetschte. „Oder nach der Prostituierten? Hat alles gemacht und Ihnen jede Ihrer ekligen Fantasien erfüllt. Und wie haben Sie es ihr gedankt? Ich könnte die Liste noch weiterführen, aber ich denke, Sie wissen, worauf ich hinaus will. Die Gnade, die Sie sich wünschen, haben Sie ihnen auch nicht gewährt..."


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