Juni - VI

269 27 15
                                    


Als Tom aufwachte, war es bereits hell. Haare kitzelten ihn an der Nase und er blinzelte einige Male, bevor er klarsehen konnte. Ari lag auf seinem Arm. Sie schlief noch. Ihre roten Locken waren völlig zerzaust und bedeckten fast ihr ganzes Gesicht. Die Kapuze seines Pullis war über die Nacht halb heruntergerutscht und bedeckt kaum mehr die Hälfte ihres Kopfes. Tom lächelte über ihren Anblick und strich ihr vorsichtig eine Strähne aus dem Gesicht. Schlagartig verblasste sein Lächeln. Aris Lippe war aufgeplatzt und getrocknetes Blut, ihr Blut, klebte an ihrem Kinn und unter ihrer Nase. Unendlich behutsam tastete er mit den Fingerspitzen über Aris Schläfen, Augenbrauen und Jochbeine. Letztere waren leicht geschwollen. Die beiden Mistkerle hatten sie geschlagen. Heiße Wut rollte durch seine Eingeweide und wie von selbst ballten sich seine Hände zu Fäusten. Mühsam beherrscht atmete er tief durch. Er wollte das Mädchen nicht wecken und am Ende noch mit seiner Wut erschrecken. Schlimmstenfalls könnte sie es missverstehen und Angst vor ihm haben. Allein die Vorstellung daran, versetzte ihn in Taumel. Er könnte es nicht ertragen, wenn dieses Mädchen sich vor ihm fürchten würde.

Tom biss sich auf die Lippe. Ari sah so friedlich aus. Er wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis sie endlich eingeschlafen war. Sie hatte auch dann noch so heftig geweint und gezittert, als sie schon längst keine Tränen mehr übrig hatte. Er hatte sie die ganze Zeit festgehalten. Doch er wusste nicht was er sagen sollte, um sie zu beruhigen, um es wieder gut zu machen und so schwieg er bekümmert und drückte ihren kleinen Körper gegen seinen.

Nach einer Weile schnappte sie nach Luft, als atme sie zum ersten Mal nach einer Ewigkeit wieder frei. Dann mussten sie eingeschlafen sein, denn an mehr konnte sich Tom nicht erinnern. Irgendwann musste sie ihre Arme in die Ärmel seines Pullis gesteckt und sich umgedreht haben.

Versonnen betrachtete er ihr Gesicht. Zahllose Sommersprossen sprenkelten ihre zarte helle Haut von der Stirn bis zum Kinn. Er unterdrückte den Impuls das Blut wegzuwischen. Sonnenlicht zauberte hunderte Rot- und Goldschattierungen in ihr Haar, doch keiner traf den Ton des sanften Rotes ihre Lippen. Tom blinzelte und sah hastig weg. Es war Zeit zu gehen.

Vorsichtig rutschte er von der schlafenden Schönheit weg und zog seinen Arm unter ihrem Kopf hervor. Wie durch ein Wunder weckte er sie nicht. Er betrachtete sie noch einen Augenblick und aus einem Impuls heraus bückte er sich zu ihr herunter und hauchte ihr einen Kuss auf den Kopf. Fast erschrocken über sich selbst zog er sich schnell wieder zurück. Neben der Tür standen seine Schuhe. Er schnappte sie sich, griff sich in die Hosentasche und tastete nach seinem Schlüssel, bevor er schließlich Aris Zimmer verließ. Leise zog er die Tür ins Schloss, schlüpfte in seine ausgelatschten Vans und verließ die Wohnung.

Als die Tür ins Schloss fiel, schlug Ari langsam die Augen auf. Ausdruckslos starrte sie auf die noch immer leicht ausgebeulte Stelle ihrer Bettdecke, auf der bis vor wenigen Minuten noch Thomas gelegen hatte. Träge fielen ihre Augen wieder zu. Ihr fehlte die Kraft um sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Sogar um zu denken. Sie hatte die leichte Berührung am Kopf gespürt, doch sie konnte nicht darüber nachdenken, was es war und warum er das getan hat. Wie im Nebel waberten graue Bilder durch ihren Kopf und verschluckten alle Töne, Farben und Gefühle.

„Ari?"

Conny klopfte an die Tür.

„Mmmh?"

„Hallo? Puppi? Alles ok? Es ist schon wieder dunkel... bist du heute überhaupt schon mal aufgestanden?"

„Hmm...", nuschelte Ari.

„Warst du gestern feiern? Bisschen viel getrunken?"

Ari zögerte. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter von der Sache erfuhr. Sie würde sich nur sinnlos aufregen und sich Sorgen machen. Und Ari wollte es einfach nur vergessen und nie wieder daran erinnert werden. Zustimmen, Feiern gewesen zu sein, wäre eine perfekte Ausrede. Doch sie wollte ihre Mutter auch nicht vorsätzlich belügen. Sie entschied sich für eine leere Aussage, die Interpretationsspielraum lies.

No Limits - No Rules - No FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt