September - V

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Aris Mimik änderte sich jäh, wurde erst ernst und zusehends trauriger. Es erinnerte Thomas daran, wo er sich befand und weshalb. Er schluckte und wandte sich unglücklich ab. Tom zog die Nase hoch und atmete stockend durch den Mund wieder aus. Noch bevor ihm richtig bewusst wurde, dass er weinte, war Ari schon von der Mauer gesprungen und hatte ihn in eine feste Umarmung gezogen. Kurz dachte er daran, dass er sich wehren sollte, doch er verjagte den Gedanken. Er konnte sie nicht wegstoßen und sich von ihr lösen. Und er wollte es verdammt noch mal nicht. Mit der Erkenntnis schlang er die Arme um ihren warmen Leib und vergrub das nasse Gesicht in ihrem zerzausten, duftenden Haar. Holprig atmend vergoss er die überfälligen Tränen und ließ sich von dem Mädchen festhalten, das sich tröstend an ihn schmiegte und schweigend wartete, bis er sich wieder gefangen hatte.

Etwas steif und widerwillig zog Tom sich schließlich von ihr zurück. Es war Zeit. Mit gesenktem Kopf, unfähig ihr in die Augen zu sehen, aus Angst vor dem, was er dann vielleicht noch tun würde, trat er etwas zurück und starrte auf seine Füße. Seine schwarzen Vans waren nass und verschlammten, von seinem Sparziergang, querfeldein durch die Parkanlagen des Krankenhauses. Er fühlte sich verleitet, in diesem intimen Moment auf alle gefassten Vorsätze zu scheißen und sie stattdessen einfach zurück in seine Arme zu ziehen und endlich zu küssen. Stattdessen schloss er die Augen und atmete kontrolliert. Er erinnerte sich selbst daran, dass es ein Fehler wäre und drängte seine aufgewühlte Psyche langsam, doch kräftiger werdend zurück in das dunkle Loch, aus dem sie gelegentlich kroch und ihm diese gefährlichen Ideen zuflüsterte, um ihn zu quälen.

Ari wartete geduldig, bis er die Oberhand zurückgewonnen hatte, ohne sich anmerken zu lassen, ob ihr irgendetwas Merkwürdiges an ihm aufgefallen war.

„Nach Hause?", durchbrach sie die drückende Stille. Thomas nickte, wich jedoch ihrem Blick aus. Ohne Vorwarnung hob sie sich seinen Arm über die Schulter und legte ihren um seine Hüfte. Zu verdutzt, um irgendetwas dagegen zu tun, ließ er sich von ihr zu ihrem grünen Mini Cooper führen und sich die Tür zur Beifahrerseite öffnen. Er stieg diesmal ohne Hilfe ein und schnallte sich selbst umständlich an. Ari stieg ebenfalls ein, startete den Oldie und schob eine Kassette ins Radio, bevor sie ausparkte.

„Sollten wir uns nicht verabschieden?", fragte er und dachte daran, wie er Ari vor ihrer Mutter angebrüllt hatte. Vielleicht war er auch Cornelia in gewisser Weise eine Entschuldigung schuldig. Doch Ari winkte lässig ab. „Nicht nötig. Sie weiß, dass ich auf dich gewartet hab und heimbringe. Außerdem muss eh arbeiten. Oder mit ihrem Doktor Schnabel rumschäkern." Sie verzog das Gesicht bei ihren letzten Worten.

Mit ruhiger Musik, die Thomas nicht erkannte, fuhren sie langsam durch die dunkle Stadt, auf verlassenen Straßen, die noch feucht vom Regen, im Schein des gelblichen Abblendlichts schimmerten. Melancholisch erzählte der Sänger von Erinnerungen, Reue und Hoffnung, die ihm auf der immer selben alten Straße begegneten.

Recent it seems / We must push on, we must push on / Though we bleed / We must push on, we must push on", sang Ari leise, doch unbeschwert den Text mit. Vielleicht, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie hatte eine angenehme melodische Stimme. Er hätte er noch ewig zuhören können. Viel zu schnell erkannte Tom an der Gegend, dass sie sich seinem Wohnort näherten und er wünschte fast, die Fahrt würde nicht gleich enden. Wie aufs Stichwort drosselte Ari die Geschwindigkeit des Minis.

„Weißt du", begann sie etwas unsicher und sah angestrengt gerade aus, auf die Straße, „das Angebot von vorhin steht noch. Du kannst bei uns pennen, äh... wegen den Treppen und so."

Tom schluckte. Er wünschte er könnte es einfach annehmen. So unbeschwert und selbstverständlich, wie Ari es ausgesprochen hatte. Als wären sie normale Freunde. Nein! Du musst sie wieder in Ruhe lassen. Lass es nicht noch mehr einreißen oder du machst wieder irgendwas Blödes. Lass sie, sie versucht nur nett zu sein, aber sie kann dich und deinen Ballast echt nicht brauchen!

No Limits - No Rules - No FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt