September - I

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Ari starrte blind in violett-rote Wolken, die sie an das näher rückende Ende des Tages erinnerten. Eine Hand in die tiefe Tasche ihres Kittels vergraben, die andere, eine glimmende Selbstgedrehte zwischen Zeige- und Mittelfinger, vollzog immer wieder mechanisch die Bewegung zu ihren Lippen und zurück, in eine träge, herabhängende Position.

Die vergangenen Tage waren unbemerkt zu Wochen geworden. Sie hatte seit fast zwei Monaten jeden Tag in der Praxis gearbeitet und an den Wochenenden in der Tierklinik ausgeholfen. Das Verstreichen der Zeit erschien ihr trotz wechselnder Lichtverhältnisse von Tag zu Nacht kaum wahrnehmbar, bis zu diesem Moment, in dem sie darüber nachdachte.

Jeden Tag war sie mit der Sonne aufgestanden, mit dem Rad zur Arbeit gefahren und am späten Nachmittag verabschiedete sich, und beeilte sich nach Hause zu kommen. Dr. Tomalik, ihre Chefin in der Praxis, hatte nach den ersten beiden durchgearbeiteten Wochen gefragt, ob alles in Ordnung mit ihr sei, da sie bereits weit über die Vereinbarung ihres Arbeitsvertrages hinaus arbeitete. Ari entgegnete, dass sie gern in der Praxis war und half – und das meinte sie auch. Sie äußerte die Hoffnung, jede Gelegenheit nutzen zu dürfen, ihr angelesenes Wissen anzuwenden und durch praktische Erfahrungen auszubauen, anstatt nur Bücher zu wälzen. Mit der indirekten Bitte rannte sie bei der renommierten Tierärztin offene Türen ein. Dr. Tomalik bezog Ari von da an insbesondere in außergewöhnliche und schwierige Fälle mit ein, prüfte sie im Stellen von Diagnosen und ließ sie gelegentlich sogar bei OPs assistieren.

Jeden Abend sank Ari todmüde ins Bett, so ausgelaugt, dass sie zum Grübeln und sehnsuchtsvollen Nachdenken nicht mehr fähig war.

Nach über acht Wochen, in denen sie nicht an Thomas gedacht hatte, fiel es ihr heute zum ersten Mal auf. Warum, konnte sie sich nicht erklären. Vielleicht die Jahreszeit...

Auch er hatte sich nicht noch einmal gemeldet. Wer weiß, ob er es je wieder tun würde. Sie wusste nicht recht, wie sie sich bei dem Gedanken daran fühlen sollte. Körperlich und geistig ausgebrannt, wie sie im Moment war, fühlte sie scheinbar nichts, als eine schwere Taubheit und das Verlangen nach Schlaf.

Womöglich hatte sie es aber mit der vielen Arbeit auch nur ein wenig übertrieben. Sie wischte sich über die Augen, nahm einen letzten tiefen Zug und drückte ihre Zigarette in den überquellenden Aschenbecher, der auf der Fensterbank zu ihrer Rechten stand. Die Tage wurden merklich kürzer und sie würde Dr. Tomalik bald bitten müssen, eher gehen zu dürfen. Vor Einbruch der Dämmerung.

Keine zwei Wochen mehr und die Semesterferien würden vorbei sein. Dann würde sie ebenfalls nur noch eingeschränkt für die Praxis zur Verfügung stehen. Doch bis dahin war noch etwas Zeit. Mehr Zeit zu heilen und die brauchte sie, auch wenn sie die Grenzen ihrer emotionalen Wunden nicht mehr richtig abzustecken wusste. Sie überließ sich nur zu gern dem grauen Dunst, der immer dann ihre Gedanken und Gefühle zu narkotisieren schien, wenn es gerade keine veterinärmedizinischen oder fachverwandten Fragestellungen zu lösen galt.

Der Tag, sowie auch der nächste und übernächste verstrichen wie die Vorangegangenen. Ari saugte Wissen auf, verfeinerte ihre Fingerfertigkeiten, Routine-Behandlungen gingen ihr in Fleisch und Blut über und die Stunden außerhalb der tierärztlichen Einrichtungen entglitten ihrer Wahrnehmung. Einzig unterbrochen, von den gelegentlichen Unterhaltungen bei Frühstück oder Abendessen – ja nach Schichtdienst – mit ihrer Mutter. Cornelia hatte noch einige Male gefragt, ob alles in Ordnung sei, es jedoch irgendwann aufgegeben. Trotzdem erwähnte sie beiläufig immer wieder Thomas Namen, wenn sie eigentlich über seine Mutter und ihren Krankheitsverlauf sprachen, der sich schleppend, jedoch unaufhaltsam verschlechterte. 

Ari hatte inzwischen keine Schwierigkeiten mehr einen völlig neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. Katrin, und natürlich auch ihr Sohn, taten ihr furchtbar leid, doch sie konnte an der Situation nichts ändern und wusste, dass sich keine der beiden Betroffenen von ihrem Mitleid etwas kaufen konnte. Ihre eigene Mutter jedoch brauchte sie, um darüber zu reden, sich ihre eigene Betroffenheit von der Seele zu reden. Katrin war Connys beste und älteste Freundin und sie war ebenso machtlos wie Ari. Jeden Tag musste sie mit ansehen, wie ihre Freundin weiter dahinsiechte, während sie an ihrem Krankenbett war und Thomas bei der Pflege seiner Mutter unterstützte. 

No Limits - No Rules - No FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt