Oktober - V

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Den Weg zur Uni ließ sie sich von Polar begleiten, die sie daran erinnerten, dass dieses eine Leben voller vorbeiziehender Tage, alles war, was sie hatte und was sie und jeder andere Mensch sein Heim nennen konnte. Es gab für niemanden ein Heilmittel und auch keinen Retter vor dem Tod. Tom schien das egal zu sein. Ari fragte sich, ob ihm sein Leben überhaupt etwas wert war, wo er doch beharrlich jeden verprellte, der sich ihm zu nähern und helfen versuchte. Ja, er würde ganz allein sein. Und Ari befürchtete, dass sie ihn vielleicht nicht retten konnte. Weil er es nicht zulassen würde. Womöglich würde es völlig sinnlos sein, herauszufinden, wie man Tom wieder an die Uni zurückbekam. Dennoch glaubte Ari daran, dass Katrin recht hatte und es seine beste Chance war, sein Pfad, auf dem es keine Gnade für ihn gab, aus der Dunkelheit heraus.

Find what you love and let it kill you / No saviour, no saviour / Will save us", flüsterte Ari synchron mit Adam Woodford, während sie ihr Rad vor dem Institut für Virologie anschloss. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, streifte einen Handschuh ab und aktivierte das Display. Kurz vor Acht. Sie war ziemlich früh dran. Ari sah sich um. Es war auch sonst noch keiner ihrer Kommilitonen da. Sie ließ die Musik an und lehnte sich an die Mauer, die die Treppe hoch zum Gebäude begrenzte. Sie stellte ihren Rucksack darauf ab, zog ihr Drehzeug aus der Seitentasche und begann sich eine Zigarette zudrehen.

Während die Minuten verstrichen, versuchte sie sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie beide sich zufällig auf dem Campus oder in der Mensa begegneten. Wenn Thomas bereit wäre, sein Studium wiederaufzunehmen, idealerweise gefördert durch irgendein Stipendium, vielleicht könnte er dann wieder werden, wie er einst war. Unbeschwert, sich selbst und seiner Wirkung auf andere Menschen bewusst und bereit zu leben. Eine Traumvorstellung. Aber nicht völlig unmöglich. Und Ari wusste was sie zu tun hatte, um ihm den Weg zu ebnen.

Während sie sich verträumt vorstellte mit Tom Mittag zu essen, füllte sich die breite Treppe vor dem Institut und dem kleinen halbrunden Platz mit den alten Holzbänken. Jemand stellte sich neben sie und knuffte sie freundschaftlich in die Seite. Ari sah grinsend auf und zog sich die Kopfhörer aus den Ohren.

„Immer so zeitig da, unsere Lieblingsstreberin", lachte eine junge Frau mit rosa gefärbten Haaren und zog an ihrer Zigarette, die einen aromatisch fruchtigen Geruch verströmte.

„Merle, auch mal wieder bei 'ner Vorlesung? Hab' ich dich dieses Semester überhaupt schon mal geseh'n?", knuffte Ari zurück und schnupperte nach ihrer Zigarette. Merle lachte und zuckte leichthin die Schultern. „Was rauchst du da für Kraut? Lass ma kosten", fragte Ari und nahm die Selbstgedrehte entgegen. „Mango", antworte Merle. „Hab letztens tatsächlich noch ein Päckchen im Schrank gefunden. Super geil, oder?" Ari nickte andächtig und inhalierte tief. „Aaaah...", machte sie genießerisch. „Den Tabak hab ich echt geliebt. Schade, dass sie den aromatisierten verboten haben."

„Auf jeden! Puh, ist echt frostig geworden. Na los, lass langsam reingehen und Plätze an der Heizung sichern."

Sie teilten sich den letzten Rest der Kippe und eilten ihren Mitstudierenden nach, die sich ebenfalls in die Wärme des Gebäudes verzogen. Die ersten Stunden vergingen ziemlich zügig und Ari hatte keine Gelegenheit während der Vorlesung die Schwarmintelligenz des Internets zu konsultieren, um Antworten auf Katrins Fragen zu finden. Aufmerksam lauschte sie ihrem Professor, der für sein Amt noch ziemlich jung war. Ari schätzte ihn auf maximal Mitte Vierzig. Leidenschaftlich schwadronierte er über typische Viruserkrankungen bei Kleintieren und deren Symptome. Immer wieder zählte er fiktive oder auch tatsächliche Krankheitsgeschichten und –verläufe auf, schilderte Symptome und forderte seine Studenten auf, die Diagnose zu stellen. Ari meldete ich einige Male, da sie ähnliche Fälle aus der Tierarztpraxis kannte und schon mit Dr. Tomalik durchgegangen war. Merle, die neben ihr saß, grinste sie jedes Mal vielsagend, aber nicht unfreundlich an und wiegte leicht ihren Kopf. Ari grinste zufrieden zurück. „Wer kann, der kann!", sagte sie und reckte ihre Nase gespielt eitel in die Luft.

No Limits - No Rules - No FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt