Tom schwieg und schien ernsthaft zu erwägen, ob es womöglich eine gute Idee war, den Komfort eines Fahrstuhls in Anspruch zu nehmen und die Nacht bei ihr zu verbringen. Oder lag neben dem Reiz eines barrierefreien Zugangs zu einem Bett, vielleicht auch ihre Person seiner langen Überlegung zugrunde? Ari würde der Gedanke gefallen, gestand sie sich ein, immer noch.
Creams Song „White Room" unterbrach sowohl ihre, wie auch Toms Gedanken. Ari drosselte das Tempo und wühlte in ihrer Manteltasche nach dem singenden iPhone.
„Ja?" – „Kind, endlich, ich hab schon vier Mal versucht dich zu erreichen. Wo zum Teufel bist du?" – „Im Auto." – „Alleine?" – „Nope." – „Thomas?" – „Jap." – „Oh. Ist es so schlimm?" – „Naja... Ja. Schon. Was denn los?" –
Stille. „Mama? Bist du noch da?"
Conny seufzte und schien mit Worten zu ringen. „Es ist wegen Katrin... Sie... ich war heute Abend bei ihr. Jetzt ist mir auch klar, wieso Thomas nicht da war. Ich hab sie ins Krankenhaus einliefern lassen." – „Oh... fuck!" – „Sag jetzt lieber erstmal nichts, kommt einfach direkt her." – „Okay. Wo...?" – „Ich warte am Eingang der Notaufnahme auf euch." – „Kay. Bis gleich."
„Bis gleich?", fragte Tom irritiert.
„Wir müssen noch einen Umweg übers Krankenhaus machen", erklärte Ari sachlich und zwang sich ihre Nervosität zu überspielen.
„Wieso? Aber nicht wegen mir, oder?"
„Nein, ich hab ihr ja gar nicht von deinem miserablen Zustand erzählt... aber wenn wir schon mal da sind, kann sie eigentlich auch noch mal einen Blick auf dich werfen."
„Ari..."
„Es macht ihr nichts und dir kann's nicht schaden, nach dieser Nacht", entgegnete Ari und stürzte sich auf das sich bildende Ablenkungsmanöver. „Du warst ewig bewusstlos. Und hast du mal in einen Spiegel geguckt? Tu's nicht, du erschrickst dich sonst zu Tode!"
Sie fühlte seinen Blick auf sich, starrte aber angestrengt auf die Straße, während sie die Route nach Hause verließ und den Weg zum Krankenhaus einschlug. Ihre Hände so fest am Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortraten, hoffte sie nur, er würde nicht auf seine ursprüngliche Frage zurückkommen. Er tat ihr den Gefallen nicht ganz.
„Du wirkst nervös. Ist mit Conny alles okay? Ist ihr was passiert?"
Ari biss sich auf die Lippe und schluckte schwer. „Nein, nein, alles gut. Ich bin nur müde und ein bisschen... gestresst", sagte sie tonlos und unterdrückte nur mühsam das Zittern in ihrer Stimme. „Ich mach mir Sorgen um dich, okay? Du siehst echt scheiße aus und ich fühl mich die meiste Zeit einfach nicht qualifiziert genug, um mit diesen Verletzungen umzugehen."
„Tja, danke für die Blumen. Aber ich finde, du machst das gut. Ich wüsste nicht was ein richtiger Arzt noch groß hätte machen sollen. Außer vielleicht Schmerzmittel verabreichen. Das wär echt cool gewesen... Aua."
„Witzig. Hm, Mist. Ich hab ein paar Ibus dabei, aber hab sie irgendwie... äh, vergessen."
„Sehr kompetent."
„Schnauze, oder du kannst dir das nächste Mal einen anderen Tierarzt suchen, der dich zusammenflickt."
Er lachte leise und brachte sie damit ebenfalls zum Lächeln. Im nächsten Moment bogen sie um eine Kurve und der Haupteingang des Krankenhauses kam in Sicht und erinnerte sie schmerzhaft an den Grund für ihre Fahrt. Sie drosselte das Tempo, fuhr an der breiten Einfahrt vorbei und nahm die nächste, wesentlich unscheinbarere Abfahrt zur Notaufnahme. Ihre Mutter stand im Lichtkegel einer einsamen Außenwandleuchte neben der breiten Toreinfahrt, durch die locker zwei Rettungswagen nebeneinander passten. Sie trug ihre dunkelblaue Krankenschwester Kleidung, die sie als OP-Schwester zu erkennen gab. Man sah ihr deutlich an, wie unbehaglich sie sich fühlte. Zwar musste sie ständig Angehörigen von Patienten schlechte Nachrichten überbringen, doch nur selten dem Sohn ihrer besten Freundin.
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No Limits - No Rules - No Fear
Literatura Feminina~ Watty Award Winner 2019 ~ Über zwei Menschen, die erst mit einander schlafen und sich danach kennen lernen... Und auf tiefe Abgründe treffen. Die Chemie schien doch perfekt zu stimmen. Aber wieso meldete sie sich dann nicht? Wieso hakt er sie da...