Ari schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf, tastete nach dem Lichtschalter und trat in den breiten Flur, um Tom Platz zu machen. Sie ließ ihren Rucksack auf die schmale Bank unter der Garderobe sinken, die gleichzeitig als Schuhregal diente. Sie hängte ihre schwarze Jeansjacke mit dem hellen Teddyfell am Kragen an einen der freien Haken und schlüpfte aus den schwarzen Docs. Tom trat zögernd hinter ihr durch die Tür. Es sah so verloren aus, dass Ari schon wieder die Tränen in den Augenwinkeln brannten. Immer noch schweigend ging Ari in die Küche, während Tom ebenfalls Schuhe und Jacke ablegte.
Sie machte nur das gedimmte, gelblich weiße Licht der beiden LEDs an, die in der Abzugshaube verbaut waren. Aus einem der oberen Küchenschränke, holte sie vorsichtig zwei bauchige Weingläser und stellte sie nebeneinander auf den Tisch. Sie hatte Tom nicht gefragt, aber ihr war definitiv nach etwas zu trinken. Etwas starken. Tom lehnte im Türrahmen und starrte auf die beiden Gläser.
„Ich steh' ehrlich gesagt nicht so auf Wein...", murmelte er und sah Ari beinahe entschuldigend an. Sie lächelte milde.
„Echt nicht? Dabei siehst du voll so aus", scherzte sie. „Keine Sorge, ich habe was Anderes als Wein im Sinn. Wärst du so gut und holst die Eiswürfel aus dem Gefrierfach?"
Er nickte und Ari hatte das Gefühl, er war dankbar über eine Aufgabe, anstatt nur trübsinnig bemitleidet und bedient zu werden. Sie ging leise den Flur herunter, in die entgegengesetzte Richtung zu ihrem Zimmer und betrat das kleine, aber gemütliche Wohnzimmer. Der Raum wurde von der riesigen Couch dominiert, auf der sie gleichzeitig mit ihrer Mutter zusammen herum lümmeln konnte, ohne dass sie sich einander auf der Pelle hingen. Aris Ziel war die alte Anrichte aus Nussbaum, die ihre Urgroßmutter angeblich schon in ihrer Stube stehen hatte, mit exakt dem selben Zweck, dem der Schrank auch in Aris Zeit diente: der Aufbewahrung und Präsentation von hochwertigen Alkoholika.
Ari drehte den kleinen Messingschlüssel und öffnete die rechte Glastür. Sie überlegte nicht lange und griff sich eine durchsichtige Glasflasche mit Korken und einem dezenten kleinen Etikett in Form eines roten, sechszackigen Sterns. In elfenbeinfarbenen Lettern stand der Name dort in Kapitälchen: „GIN EVA" – Aris absoluter Lieblingsgin. Sie wog die noch halb-volle Flasche liebevoll in der Hand. Für einen besonderen Anlass. Wenn es auch ein besonders trauriger Anlass war.
Zurück in der Küche hatte Tom beide Gläser bereits mit einigen Eiswürfeln gefüllt. Ari nickte ihm zu und hielt die Flasche hoch.
„Ich hoffe, du magst Gin."
„Ich glaube, ich habe Gin noch nie solo getrunken. Nur als Gin Tonic"
„Kein Problem, ich habe auch Tonic. Aber magst du ihn mal pur probieren?" Ari entkorkte die Flasche mit einem leisen Plopp und hielt sie ihm unter die Nase.
Er sog mit geschlossenen Augen die Luft durch die Nase ein.
„Riecht lecker", sagte er wollte nach der Flasche greifen.
Doch Ari zog sie zurück und sah ihn entsetzt an.
„Nicht aus der Flasche, du Barbar!" und drückte den Gin wie ein heiß geliebtes Artefakt an ihre Brust.
Tom zog erschrocken die Hand zurück und sah sie beschämt an, konnte sich aber ein zaghaftes Grinsen nicht verkneifen. Glücklich darüber grinste Ari zurück. Sie stellte den Gin neben die Gläser und warf Tom noch einen warnenden Blick zu bevor sie sich umdrehte. Tom biss sich auf die Lippen und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Ari öffnete erneut den Küchenschrank und holte ein einzelnes filigranes Schnapsglas hervor. Sie füllte es mit einem kleinen Schluck der kostbaren, klaren Flüssigkeit und reichte Tom das Glas mit spitzen Fingern. Neugierig auf seine Reaktion beobachtete sie ihn. Er schien sich etwas unwohl zu fühlen. Vielleicht, weil er bemüht war das zarte Glas nicht zu zerdrücken. Vielleicht auch, weil sie ihm so offen ins Gesicht sah und betrachtete.
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No Limits - No Rules - No Fear
ChickLit~ Watty Award Winner 2019 ~ Über zwei Menschen, die erst mit einander schlafen und sich danach kennen lernen... Und auf tiefe Abgründe treffen. Die Chemie schien doch perfekt zu stimmen. Aber wieso meldete sie sich dann nicht? Wieso hakt er sie da...