Die Sonne in dem ihr fremden Land schien ausgiebig und warm auf das kleine Mädchen herab. Sie blinzelte aus der großen Türe, aus der sie ihre Mutter geschoben hatte. "Geh im Garten spielen, ma Cherie", hörte sie noch, während sie die wenigen Stufen hinab stolperte.
Vor ihr erstreckte sich eine ansehnliche Grünfläche und als sie das Gras unter ihren kleinen, nackten Füßen spürte, fühlte sich Elouise Maronne augenblicklich wohl. Das Mädchen rannte sofort los, spürte die Natur um sich herum und sog deren Schönheit begierig in sich auf. An einem der vielen Beete blieb sie stehen. Ein Baum ragte daraus empor und war umringt von wunderschönen Blumen, die Elouise nicht kannte. Sie ließ sich auf den Rasen fallen und sog den lieblichen Duft ein. Genoss den Schatten, den ihr der gewaltige Baum spendete."Was machst du da?", vernahm sie eine quirlige Stimme, aus einer undeutbaren Richtung. Verwirrt sah sie sich um. Im gesamten, von einer hohen Mauer umrahmten Garten konnte sie niemanden ausmachen. "Hier oben!" Elouise folgte dem Ruf und entdeckte hoch oben im Geäst einen blonden Jungen. "Von hier kann man über die Mauern sehen. Auf die ganze Stadt." Der Junge war gebräunt von der Sonne und lächelte frech zu ihr hinab, ehe er weiter die Aussicht betrachtete.
"Maman sagt, Mädchen sollen nicht auf Bäume klettern", rief sie zu dem Jungen hinauf. "Warum nicht? Es macht doch Spaß." Er schaute wieder zu ihr runter. In seinem fragenden Blick erkannte das Mädchen dunkle, blaue Augen, die sie sofort in ihren Bann zogen. "Du hast ja Augen wie das Meer!", kam es verblüfft von der Kleinen, ohne auf die Frage einzugehen. Der Blondschopf schaute einen Augenblick verwundert zu dem Mädchen runter, bevor er anfing breit zu grinsen. "Wenn du hier hoch kommst, kannst du dir nicht nur die Aussicht ansehen, sondern auch meine Augen, wenn du sie denn so toll findest."
Sein Blick war herausfordernd geworden und auch wenn Elouise, durchaus wohlerzogen, wusste, dass es ihr verboten war, konnte sie ihrem Stolz, aber auch ihrer Neugierde, nicht standhalten.
Sie ging also auf den Baum zu und begann an ihm hinauf zu klettern. Sie tat sich schwer. Ihr puppenhaftes Kleid behinderte das Mädchen und sie stieß entnervt die Luft aus ihren Lungen. Der blonde Junge beobachtete ihren Anstieg mit Argusaugen und grinste dabei, was ihre Laune noch weiter hinunter zog und ihren Körper schwerer zu machen schien.Als sie den dicken Ast, auf dem er saß, beinah erreicht hatte, verlor sie ihren Halt und ihr linker Fuß rutschte ab. Nur mit großer Mühe konnte sie einen Sturz verhindern und hielt sich mit den Händen fest an dem Ast, der ihr Ziel gewesen war. Sie schaute an sich runter. Das Kleid war hie und da aufgerissen. Darunter der Abgrund. Elouise schluckte schwer, bevor sie wieder aufsah und verzweifelt versuchte, mit den Füßen halt zu finden. Der Blondschopf hockte direkt über ihr und schaute sie verwundert an.
"Du hättest doch fragen können, ob ich dir helfe", erklärte er grinsend und reichte ihr eine Hand. Das Mädchen schaute in die klaren, dunklen Augen und eine Welle des Vertrauens durchflutete sie. Ohne zu zögern, ergriff sie seine Hand und stieg, dank seiner Hilfe, mit Leichtigkeit auf den Ast. "Danke", keuchte sie und besah sich ihrer Hände, ehe sie das, was von ihrem Kleid noch übrig war, zurecht zupfte. "Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich dich beschützen muss”, grinste der Blondschopf wieder und zog Elouis schließlich etwas näher zu sich. "Jetzt schau doch endlich mal!", befahl er mit einer ausladenden Geste, doch sich von seinem Antlitz loszureißen, fiel ihr irgendwie schwer.Aber es lohnte sich wirklich. Der Ausblick war atemberaubend. Mit weit aufgerissenen Augen sah Elouise sich um. Die vielen Kanäle wirkten wie Straßen, die die Stadt durchzogen. Die Bauweise der Gebäude. Die Gondeln, die auf den Flüssen ihre Bahnen zogen. So hatte sie die Stadt, in der sie zu Besuch war, noch nicht gesehen. "Hat sich gelohnt, oder?", riss sie der Blondschopf aus ihrer erstaunten Starre. Eilig fuhr sie zu ihm herum, schaute ihm wieder in die klaren, dunklen Augen und nickte nur. Die blonden Locken umspielten sein Gesicht und für Elouise wirkte es dadurch fesselnd und einfach schön.
"Ah...du warst also schon mal am Meer", sagte er milde, da er keine Reaktion von ihr bekam. Wieder nickte sie. Unüblich für die sonst so redselige Kleine. "Wie alt bist du?", fragte er und endlich schien sie sich zu fangen. "Vier, fast fünf und du?" Er lächelte und Elouise fand ihn noch schöner. "Ich werde im Dezember fünf. Soll ich dir noch mehr zeigen?" Er grinste schelmisch und herausfordernd. Ein Ausdruck, dem sich das Mädchen auch in Zukunft nicht würde entziehen können.
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Maskenball
Historical FictionElousie reist seit ihrer frühesten Kindheit jedes Jahr mit ihren Eltern nach Venedig. Bei ihrem ersten Besuch in der Stadt der Kanäle lernte sie Isabella kennen, deren Eltern immer zu dieser Zeit einen weit bekannten Maskenball veranstalten. Die bei...