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  Die Zeit auf Reisen mit ihren Eltern hatte sie wortgewandt gemacht und so gliederte sie sich maskiert und mit annähernd dem Körper einer Erwachsenen allmählich hervorragend in die Gesellschaft ein. Solche Dinge lagen ihr und so vermochte sie es, ihre Aufregung über weite Teile des Abends im Zaum zu halten. Doch Isabella ließ dieses Jahr wirklich lange auf sich warten. Kein überraschender Auftritt oder jemand, der sie sachte zur Seite zog, um ihr eine geheime Nachricht zu zustecken. Oder hatte sich der Blondschopf womöglich so verändert, dass auch sie sich ungesehen unter die Gäste mischen konnte und unerkannt blieb?

Die junge Frau seufzte betrübt und hielt sich an ihrem Glas fest, nachdem es ihr endlich gelang, sich aus allen Gesprächen zu stehlen und etwas abseits einmal durch zu atmen.
Eine kühle Brise wehte durchs Fenster neben ihr und wirbelte ihre hellbraunen Locken auf. Sie warf einen Blick hinaus. Der Himmel klarte gerade auf. Der Mond schob sich hinter einer Wolke hervor und beschien den bekannten Garten unter ihr. Kurz suchte sie mit den Augen das dunkle Grün ab, bis sie an ihrem Baum ankam. Wehmütig schaute sie wieder zurück in den Saal. Sie war sich sicher, dass Isabella nicht hier war und so überwand sie eilig die vielen Meter zu der großen Flügeltüre, die sie nach draußen führte.

Niemand hatte ihr Verschwinden bemerkt und so verlangsamte sie ihr Tempo merklich, als sie auf die großzügige Rasenfläche trat. Gierig sog sie den allzu bekannten Duft ein.  
"Bella, bist du hier irgendwo?", rief sie gedämpft in die Stille der hereinbrechenden Nacht, die nur von den dumpfen Geräuschen der Gesellschaft durchbrochen wurde. Elouise seufzte tief. Wo war sie nur?

Sie wartete noch eine Weile an Ort und Stelle, bis ihre Schritte sie irgendwann automatisch an den alten Baum führten, der ihr den Weg in eine neue Welt bereitet hatte. Sie nahm ihn genauer in Betracht und prustete los, als sie ihre Freundin schlafend auf dem dicken Ast erkannte. Sie lehnte mit dem Rücken an dem breiten Stamm und ihre Beine baumelten herunter. Schmunzelnd registrierte Elouise, dass Isabella sich sogar angebunden hatte, um nicht herunter zu fallen. Nur für den Fall. Typisch!

Nachdem einige Rufe erfolglos blieben, stieg die Brünette behände hinauf zu ihrer Freundin. Elouise schluckte hart, als sie endlich oben angekommen war und sich die Adelstochter genauer besah. Sie war noch immer in eine legere Hose und ein viel zu weites Hemd gekleidet, das ihr halb offen schon an einer Schulter hinab gerutscht war. Anders als die Jahre zuvor beruhigte sich ihr aufgewühltes Inneres nicht sofort. Im Gegenteil. Der Anblick ihrer schlafenden Freundin, in dieser durchaus unziemlichen Aufmachung, raubte ihr den Atem. Ihr Herz hämmerte hart gegen ihre Rippen und in ihrem Magen tobte es.

Ein unbändiger Drang stieg in Elouise hoch und sie vermochte nicht, sich ihm entgegen zu stellen. Zärtlich strich sie einige blonde Strähnen aus dem makellosen Gesicht der Adelstochter, die ungerührt weiter schlief. Ihr Herz schmerzte beinah, so sehr spielte es verrückt, doch Elouise ignorierte es. Zu sehr war sie gefangen im Antlitz ihrer Kindheitsfreundin. Diese rührte sich plötzlich minimal, atmete einige Male tief durch und entspannte sich wieder. Elouise wich zurück und zog auch ihre Hand wieder zu sich. Seufzend wandte sie sich ab, bis der leise Ruf nach ihrem Namen sie herum fahren lies.

"Louis!", erklang Isabellas glockenklare Stimme ein weiteres Mal. Eindringlicher, aber noch immer vom Schlaf geleitet. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und Elouise wusste nicht, wie ihr geschah, doch konnte sie dem Drang nicht länger widerstehen. Sie beugte sich vor und legte zärtlich ihre auf die vollen Lippen der Schlafenden. Und obwohl dieser Kuss einseitig war, fühlter er sich anders an als die Vorangegangenen. Er dauerte an und sie strich Isabella dabei sanft durchs Haar. Sie gab sich dem Moment völlig hin und bemerkte dabei eine ganze Weile nicht, dass er unlängst erwidert wurde.

Als ihr dieser Umstand schließlich gewahr wurde, schnellte sie erschrocken zurück und starrte entsetzt in die tief blauen Augen des Blondschopfes, die sie verschlafen anblinzelten. Ein siegessicheres Lächeln breitete sich auf den zuvor geküssten Lippen aus. "Versprechen für dieses Jahr eingelöst, würde ich sagen", erklärte sie leichthin. Elouise schluckte ihre Verwunderung runter und setzte ein Grinsen auf, während sie nickte. "Es ist ja schon dunkel! Hab ich so sehr verschlafen?"

Die beiden Mädchen unterhielten sich noch eine ganze Weile, ehe sie beschlossen, den Ball sausen zu lassen und direkt zu Valentina zu gehen.
Isabella redete gelöst wie immer und Elouise hörte geduldig zu. Ihr Magen rebellierte noch immer, von ihrem Herzschlag ganz zu schweigen. Doch etwas hatte sich verändert. Die junge Frau wusste nun endlich, woher ihre wirren Gefühlsregungen rührten.
Sie saß neben Isabella auf der Bank und zusammen betrachteten sie gerade den sternenverhangenen Himmel, als sie sich zum ersten Mal gestattete den Gedanken zu Ende zu denken.
Es war Liebe.

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