10 • Die Augen einer Mutter

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,,Was wollte sie denn hier?" sprach ich Bertha direkt an. Ich hätte nicht gedacht, dass meine Zimmerpartnerin sich hier blicken lassen würde. Vor allem wie war sie den ganzen Weg alleine hier runter gekommen, bei ihrem körperlichen Zustand. Ach der Aufzug, das erklärte es, aber den restlichen Weg? Als sie den Laden verlassen hatte war sie noch immer sehr wackelig gelaufen.

,,Sie hat sich nur die Magazine angeguckt, wie viele andere es auch tun und hat es sich dann gekauft." antwortete Bertha, während sie hinter sich in einer Kiste kramte.

,,Bertha ich bin nicht blöd, ihr habt euch noch ungefähr 5 Minuten an der Kasse unterhalten."

,,Wie lang stehst du denn schon vor dem Kiosk?" Fragte sie mich nun mit hochgezogenen Augenbrauen. Immer hörte sie denn falschen Teil vom Satz.

,,Okay du hast mich erwischt!" Gab ich zu.

,,Ach Kind", sie kam zu mir rüber ,,sie wollte das ich ihr einen Rat gebe und zwar hat sie von einem Unbekannten einen Brief erhalten, in dem drin stand, dass er sie zu einem Abendessen einladen würde. Sie wollte von mir wissen, ob ich denke, dass das ein komischer Stalker sei oder ein netter Junge, der sie ernsthaft zum Abendessen einladen wollte."

,,Und was hast du ihr gesagt?" Musste ich Bertha denn alles aus der Nase ziehen.

,,Natürlich, dass das bestimmt von einem Stalker ist, der sie die ganze Zeit beobachtet und das sie sich auf keinen Fall zu diesem Essen erscheinen soll." Sie guckte mich todernst an.

,,Du hast was?" Rief ich entsetzt auf.

,,Ethan natürlich nicht." 

Sie sah mir tief in die Augen und ich sah ihre Fürsorge, ich sah in ihr eine Mutter, die sich verdammt nochmal um mich kümmerte. Die mich nicht alleine abends zu Hause gelassen hätte, als ich erst fünf Jahre alt war. Die nicht meinen Bruder mehr geliebt hätte als mich und mich nicht wie Dreck behandelt hätte. Die mich nicht auf ein Internat in der USA hätte abschieben wollen. Die mich einfach in den Arm nehmen würde, wenn es mir schlecht geht und mir sagt, dass ich keinen Mist anstellen soll. 

Bertha hatte natürlich keine Ahnung, was in meinem Kopf vorging und sie fuhr deshalb fort. 

,,Ich habe ihr gesagt, dass sie diese Chance ausnutzen soll, denn wer weiss, vielleicht trifft sie den wundervollsten Menschen aller Zeiten. Einen der sich immer um sie kümmern wird und der immer an ihrer Seite sein wird, vielleicht ein paar Macken hat, aber hat das nicht jeder. Sie soll sich ihn schnappen. Ja und dann ist sie gegangen, einfach so, ohne etwas zu sagen."

,,Bertha, ich werde in 4 Tagen entlassen." Der abrupte Themawechsel schien sie zu überraschen, machten ihr aber nichts aus. Sie nahm mich sofort in den Arm, als die Worte auf sie gewirkt hatten.

,,Ich freue mich so für dich. Endlich kannst du dein Leben wieder in vollen Zügen genießen, du bist dann frei und gesund. Ich hoffe für dich von ganzem Herzen, dass das auch immer so bleiben wird."

Verdammt, Ethan bleib jetzt stark. Jungs weinen nicht, auch wenn gerade nur Bertha vor dir sitzt.

Ich lächelte sie stattdessen traurig an. ,,Bertha, ich würde fast lieber hier bleiben, als zurück in mein Appartement zu gehen. Hier bin ich die ganze Zeit von Menschen umgeben. Menschen, die ich ins Herz geschlossen habe. Das Krankenhaus ist zu meinem Alltag geworden? Könntest du dir ein Leben alleine in einer Wohnung ohne Anhaltspunkte vorstelle?"

Bertha wohnte auch im Krankenhaus. Sie hatte selber hier als Patientin gelegen, 2 Jahre lang. Im Kampf gegen Leukämie. Sie hatte es geschafft. Zurück in die Welt außerhalb zu kehren, war für sie unmöglich. Sie hatte ein Sonderzimmer bekommen im Krankenhaus, musste dafür aber im Gegenzug im Notfall erste Hilfe leisten.

,,Nein Ethan, das hier ist mein zu Hause. Ist es nicht fast schon krank, dass ich an einen Ort gebunden bin, an dem auch so viel Trauer und Verzweiflung herrscht." Sie guckte mich traurig an.

,,Ach Ethan ich möchte jetzt aber wirklich nicht weinen, deswegen wünsche ich dir einfach eine tolle Zeit, wenn du dann da draußen bist. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Vergiss das nie und vergiss mich auch nicht."

,,Niemals Bertha, ich verspreche es dir." 

Ich umarmte sie noch einmal. War das ein Gespräch gewesen, was eine Mutter mit ihrem Sohn führen würde? Ich wusste es nicht. Doch wenn ja, dann war es ein verdammt gutes Gefühl.

Ich ging auf die Glastür zu und beim öffnen klimperte das Glöckchen.

,,Ach und übrigens Ethan, viel Glück bei deinem Date. Ich weiss, dass du Joy überzeugen kannst, mach sie wieder glücklich. Ich weiss ganz genau, dass der Brief von dir war."

Und so verließ ich den Laden mit einem breiten, siegessicheren Grinsen auf meinem Gesicht.

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Short but deep.


JOYWo Geschichten leben. Entdecke jetzt