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Es war kurz vor meinem Abitur. Nur noch wenige Monate und ich musste diese Schule nie wieder von innen sehen. Dabei ist es nicht so, dass das Lernen, das der Unterricht an sich ein Problem darstellte. Lernen machte mir Spaß. Macht es bis heute. Lernen ist das, was mich am meisten begeistert. Und zwar lernen in einem allumfassenden Sinn. Also, wie bei den alten Griechen. Wie bei Sophokles oder Platon. Ich hätte nicht ausschließlich Einsen , aber war doch im obersten Drittel der Bestenliste zu finden. Nein, der Grund für meinem Wunsch niemals wieder diese Schule betreten zu müssen, lag ganz woanders verborgen.

Ach, vielleicht sollte ich mich lieber erst mal kurz vorstellen. Mein Name ist Jungkook . Ich bin vor zwei Wochen 17 Jahre alt geworden. Nicht das mein Geburtstag irgendjemanden besonders interessiert hätte. Warum auch? Meine Geburt hatte ja auch niemanden interessiert. Meine Erzeuger hatten mich gleich nach der Entbindung im Krankenhaus verlassen, um sich weiterhin ihren vielfältigen Süchten widmen zu können und ich wanderte fortan von Heim zu Heim, von Pflegefamilie zur nächsten betreuten Wohngruppe. Und so weiter. Aber das ist auch alles voll in Ordnung. Eigentlich habe ich meine "Eltern" nie wirklich vermisst. Wie soll man auch etwas vermissen, was man nie kennengelernt hat, oder? Wenn ich ehrlich bin, weiss ich nichts über sie. Vielleicht haben sie ihre Drogenkarriere erfolgreich beendet, vielleicht sind sie aber auch schon lange an einer Überdosis krepiert. Mein Lebensweg hatte sie nie gekümmert, warum sollte ich mich um ihren sorgen, oder?

Meine Schullaufbahn wird bald erfolgreich abgeschlossen sein und ich kann endlich unbeaufsichtigt ein eigenes richtiges Leben beginnen. Davon träumte ich seit mindestens fünf Jahren. Raus aus dem beengenden Kaff, meiner sogenannten Geburtsstadt. Weg von den, mehr oder weniger, verantwortungsbewussten und fürsorglichen Betreuern und Sozialarbeitern. Auf in die anonyme Weite und Freiheit unserer Hauptstadt.

In ein selbstgewähltes Leben. Denn ich hatte bereits meinen Studienplatz für Jura, Soziologie und Philosophie in Berlin sicher. Genauso wie ein Zimmer im Studentenheim. Damit war ich den meisten Landeiern und Stubenhockern meiner Klasse weit voraus. Sogar zwei unterschiedliche Aushilfs-Jobs hatte ich mir in Seoul organisiert, um möglichst wenig Bafög in Anspruch nehmen zu müssen. Ein Auslandssemester stand ebenfalls ganz oben auf meiner Wunschliste.

Insofern lächelte ich innerlich und äußerlich seit einiger Zeit vor mich hin, während ich in den Pausen im Foyer des Gebäudes oder auf dem Schulhof auf die letzten Unterrichtsstunden wartete. So war es im Grunde immer verlaufen. Alles um mich herum versuchte mehr oder weniger belanglose Konversation zu betreiben. Versuchte sich über Schwachsinn wie irgendwelche Sendungen zu ereifern, als wäre das real, als hätte das irgendetwas mit ihrem Leben in diesem Kaff zu tun.

Es war nicht so, dass ich diese "Sendungen" nicht kannte. Bei uns in der Wohngruppe flimmerten ja diese belanglosen und langweiligen Formate fast ununterbrochen auf dem Flat Screen im Gemeinschaftsraum. Nur mich interessierte es gar nicht. Also hatte ich auch nichts zu den großartigen und intellektuell hochwertigen Pausengesprächen beizutragen. Ausserdem liebte ich es, schweigend an der Wand zu lehnen, die Ohren und Augen weit geöffnet, mir das Treiben der anderen zu studieren. Manchmal malte ich mir dann aus, wann sie sich wohl reproduzieren würden? Na ja, so abwegig war dieser Gedanke nun wirklich nicht. Eine meiner Mitschülerin musste wegen ihrer Schwangerschaft bereits vor der mittleren Reife die Schule verlassen. Das fand ich furchtbar. Tatsächlich hatte ich richtig Mitleid mit ihr. Fünfzehn Jahre alt und bereits ein eigenes Kind.

Und ich schaute mir meine Mitschüler an und malte mir aus, wie sie in zehn oder zwanzig Jahren aussehen würden. Wer von ihnen noch
einigermassen die Figur gehalten hätte? Welcher Mann bereits mit Halb-oder Vollglatze und Bierbauch unterwegs wäre? Wieviele Träume von ihrer Zukunft sie nacheinander beerdigt haben würden? Und wer von ihnen war tatsächlich bereits unter der Erde? Diese Gedanken beschäftigten mich seit Jahren und sie waren auch mit der Grund dafür, dass ich als Aussenseiter wahrgenommen wurde und blieb. Ja, es war mein selbstgewähltes Schicksal und ich konnte es auch niemanden verdenken. Wahrscheinlich hätte ich selber auch nicht unbedingt mit mir gesprochen.

maverick - taekookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt