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»Ach du liebe Güte!« Nathan und ich fuhren auseinander. Die Glastür war von Rosella geöffnet worden, die vor Schreck ihren Putzeimer fallen gelassen hatte. Erschrocken sah ich sie an und Nathan fuhr sich verlegen durch die Haare. Rosella starrte von Nathan zu mir und wieder zurück. Dann fing sie sich wieder und nickte. »Mr. Blane«, sagte sie leise und wollte sich dann wieder umdrehen, doch ich hielt sie zurück. »Sie dürfen es keinem sagen.« Ich sah ihr tief in die dunklen Augen. Sie nickte langsam und stellte dann ihre Sachen ab. »Versteht sich von selbst. « Sie musterte Nathan. »Das ist ganz übel«, sagte sie dann. Ich lächelte. Ihr Akzent war so niedlich. Vielleicht aus Frankreich? Sie übersah immer die Punkte über »ü«, »ö« und »ä«. Aber gleichzeitig rollte sie das »r«.

Rosella lief an uns beiden vorbei zu dem Glastisch, den sie scheinbar putzen wollte. Dabei fiel ihr Blick auf die Skizzen des Dolches. Ihre Augen wurden groß und sie nahm das fertige Bild in die Hand. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Sie können sich bei Fragen an mich wenden...«

»Was wollt ihr damit?« Ihre Stimme klang warnend. »Was wissen sie darüber?« Nathan kniff die Augen zusammen.

»Ich weiß, dass ich diesen Dolch besitze.« Und schon wieder zersprangen alle Gedanken in kleine Splitter, die man nicht zusammensetzen konnte. »Er ist ein Erbstück meines Großvaters.« Sie zuckte die Schultern. Wenn Rosella den Dolch besaß, dann könnte sie uns eventuell helfen, das Rätsel zu lösen.

»Wissen Sie, woher ihr Großvater ihn hatte?« Nathan schaffte es scheinbar noch weiterbringende Fragen zu stellen.

»Ich weiß, dass er auf den Bohlama-Inseln geschmiedet wurde. Grandpa hatte ihn von einer Reise mitgebracht. Die Klinge ist aus echtem bohlamischen Stahl und die Rosen sind Robine.« Sie fuhr mit den Fingern über Nathans Zeichnung. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich den Namen der Insel schon einmal gehört hatte. »Wir brauchen ihn«, sagte Nathan leise. Bohlama-Inseln, Bohlama-Inseln... woher kannte ich diesen Ort.

»Wie viel wollen sie dafür haben?«

Ich sah ihn empört an. Erbstücke verkaufte man nicht. Aber Nathan griff natürlich direkt auf seinen unbegrenzten Geldspeicher zurück. »Er steht nicht zum Verkauf«, meinte Rosella schlicht. »Er ist das Einzige, was mein Großvater hinterlassen hat.« »Verständlich«, meinte ich und blickte zu Nathan hoch. »Du wirst ihn nicht bekommen«, sagte ich leise. »Wir müssen uns was anderes einfallen lassen.« Nathan verzog das Gesicht. »Würden sie ihn uns ausleihen?« Rosella überlegte. »Dann möchte ich aber auch alles wissen.« Ich wechselte einen Blick mit Nathan. Er schüttelte langsam den Kopf. »Es bringt sie in Gefahr«, flüsterte er. Ich senkte den Kopf. Wir mussten sie einweihen. Der Dolch war unsere einzige Chance, den Fluch zu brechen, das wusste ich. Denn er tauchte überall wieder auf. Der Dolch war der eigentliche Schlüssel...

Rosella verdrehte die Augen. »Ich habe doch eben schon gesagt, dass ich niemandem etwas verraten werde. Das würde für mich wahrscheinlich auch nicht gut enden. Ich kann keinen – wie sagt man - gereizten Arbeitgeber gebrauchen.« Ich runzelte die Stirn. »Okay, ich glaube, wir reden gerade etwas aneinander vorbei.« Nathan spannte sich an. Er wollte um jeden Preis verhindern, dass Rosella von der ganzen Dämonensache Wind bekam. »Was wollen sie wissen?« Ich hoffte so sehr, dass wir nicht von der selben Sache sprachen. Ich konnte nicht zulassen, dass Rosella in Gefahr geriet. »Ich möchte wissen, wie es sein kann, dass sich zwei Menschen, die eigentlich die Rolle der Geschwister spielen sollten, lieben.« Ich atmete auf und lächelte erleichtert. Nathan musterte Rosella ungläubig. Ich ging zu ihr hin und legte ihr freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. »Weißt du, das können wir dir gerne in allen Einzelheiten erzählen.« Nun lächelte Nathan auch und seine Anspannung nahm merkbar ab. Er lief zum Tisch und sammelte seine Arbeiten ein. »Und danach bekommen wir den Dolch?« Rosella nickte. »Er ist in meiner Wohnung, ich kann ihn morgen vorbei bringen.«

»Perfekt.«

Gereons Haustür hatte einen schwarzen Raben als Schnitzerei, der auf einem goldenen Klopfring saß. Auch die Klingel war golden. Ein offensichtliches Zeichen dafür, dass Gers Eltern unglaublich viel Geld hatten. Travis öffnete und sein Blick blieb an Nathans Arm kleben, den er um meine Hüfte gelegt hatte. Er sah direkt wieder zu Boden und führte uns in Gers Zimmer. Die Wände waren dunkelblau gestrichen und jedes Möbelstück schien darauf angepasst zu sein. Der graue Schreibtisch war, anders als bei Nathan, vollkommen aufgeräumt und auch im Rest des Zimmers herrschte eine saubere Ordnung. Selbst der graue Fusselteppich war von Chipskrümeln und Dreck befreit. Scheinbar durfte hier sehr wohl eine Putzfrau rein. Ich setzte mich neben Nathan aufs Bett, gegenüber von Ger und Jules, die jeweils auf einem dunkelblauen Sitzsack und einem ebenfalls blauen Schreibtischstuhl saßen. Travis ließ sich auf den freien Platz neben mir fallen.

»Wir haben Neuigkeiten«, fing Nathan an und holte ein zusammengefaltetes Blatt, auf dem der Dolch abgebildet war, aus seiner Collegejacke. »Unsere Putzfrau besitzt diesen Dolch«, sagte er und legte das Blatt auf den Boden, wo es alle sehen konnten. »Sie wird ihn uns morgen bringen. Dann können wir den Dämon beim nächsten Treffen fragen, was es damit auf sich hat.« Die Jungs nickten. »Und wir haben die Liste fertig. Es sind verschiedene Arten, auf die man deine Vision deuten kann. Und vor Allem kann man nicht alles der gleichen Sache zuordnen es. Es ist verwirrend. Hier.« Er reichte mir den Zettel und ich las seine krakelige Schrift.

-Nathan steht für alle, die Lissa liebt.

-Der Dolch steht für Zerstörung und wird unser aller Tod sein

-Lissa konnte den Dolch nicht rausziehen, weil sie der Dolch war und Nathan sie nicht mehr aus sich raus kriegt.

-Lissa ist zu schwach um zu helfen

Der letzte Stichpunkt ließ mich zweifeln. Dann kam mir eine Idee. »Was, wenn es gar nichts ist, das man deuten kann.« Vier verwirrte, männliche Gesichter. Wie ich das mittlerweile liebte. »Ich meine, was, wenn der Dämon mit der Zeit selbst das Rätsel für uns löst. Wenn wir bestimmte Handlungen ‚freischalten' müssen, bevor wir auf die richtige Lösung kommen.« »Verstehe ich das richtig, du vergleichst unser übernatürliches Problem mit einem Dämon, mit einem digitalen Spiel?« Ger runzelte die Stirn. »Aber es wäre möglich«, dachte Travis laut. »Immerhin stand in der Prophezeiung etwas wie ‚Mit jedem Tag erlangt ihr Weisheit'. Das könnte doch damit zusammenhängen.« Aha, das Buch, aus dem Ger bei jeder Zeremonie betete, enthielt also auch noch lateinische Prophezeiungen.

»Eben war es so, dass das Zitat des Dämons ‚Du steckst schon viel zu tief drin' quasi von alleine aus meinem Mund kam. Es passte zur Situation und vielleicht, war das der Hinweis darauf, dass der Dämon alles so fügt, dass es mit der Zeit Sinn ergibt.« Nathan nickte mir zustimmend zu und ich wusste, dass Ger und Travis diese Möglichkeit in Betracht zogen. Jules saß nur weiter auf dem Stuhl und starrte Löcher in die Luft. »Dann sollen wir einfach warten?« Ger betrachtete das Abbild des Dolches. Ich verdrehte die Augen. »Wir sollen die anderen Spuren weiterverfolgen. Das mit dem Dolch haben wir geregelt und die Inseln... Moment mal.« Ich nahm eines der Blätter, die Ger auf den Boden gelegt hatte um unsere Fortschritte zu verdeutlichen. Dann las ich mir die Auswahl an Inseln durch, die wir gestern notiert hatten.

Bohlama-Inseln.

Daher kannte ich den Namen!

»Das ist es«, sagte ich und zeigte auf die Worte. »Dort werden wir den Stein finden.« Und während Nathan sich vor eigener Dummheit vor die Stirn schlug, Ger wie wild eine Internetsuche nach passenden Bildern startete, Travis mir leicht über den Arm strich und Jules ein breites Grinsen ins Gesicht fuhr, fühlte ich mich wichtig. Brauchbar. Unersetzbar. Denn ich hatte unser erstes wichtiges Rätsel gelöst.

»Die Insel ist 18 Flugstunden von uns entfernt«, murmelte Ger leise. Ich seufzte. »Dann schaffen wir es bestimmt nicht, an einem Wochenende dort hin zu fliegen, die ganze Insel abzusuchen und wieder zurückzufliegen.« Nathan zuckte die Schultern. Jules starrte weiterhin in die Luft, als befände sich dort eine unglaubliche Lösung unseres Problems. Nun sprang er auf. »Ich kümmer mich darum.« Das war die einzige Antwort die wir von ihm bekamen. Und die ersten Worte, die nach einer langen Zeit überhaupt aus seinem Mund gekommen waren.


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